Maurice Ravel

Variationen über Person und Werk

by 

Hans Heinz Stuckenschmidt

Suhrkamp, 1976


Seiten 66 - 69

Das Jahrhundert ging seinem Ende zu. EIn Jahrhundert der großen wissenschaftlichen und künstlerischen Wandlungen, Neuerungen und Entscheidungen. Die Autorität alter Überlieferungen war durch Skepsis und rationalistische Durchleuchtungen schwankend geworden. Jugend stand in heftigerem Kampf gegen die Vorurteile und Konventionen als jemals seit den Tagen der Französischen Revolution. Scharf prallten die Weltanschauungen aufeinander. 


Da war die Phalanx der Sozialisten, geführt von Geistern wie dem unbestechlichen Emile Zola, dessen Beispiel bald im Dreyfus-Prozeß dem Stand des Schriftstellers und Intellektuellen eine neue Würde geben sollte. Die Reformen dieser politischen Geister griffen bis in die Reservate der reinen Kunst hinüber. Ja, reine Kunst gäbe es nicht, wurde dekretiert; der Schaffende sei Exponent der Gesellschaft, der er angehöre, Dichtung, Malerei, Plasik und Musik hätten ein Lebensrecht nur, wenn sie ihre splendid isolation aufgäben und sich entschlossen einer neuen werdenden Gesellschaft, der des Arbeiters, zur Verfügung hielten. Industrie, Maschinen und Fabriken gewannen durch dieses Prophetentum einen mythischen Zug von Erhabenheit; eine neue Schönheit der Armut und des Alltäglichen wurde entdeckt und übte ihren Reiz bis in die Bezirke derjenigen aus, die all diesen Sozialideen sehr fern standen.


Es fehlt nicht an einer Gegenpartei, einer ebenso mächtigen Phalanx von reinen Ästhetikern, die von solchen Reformen nichts wissen wollten. Die Literatur des fin de siecle, der Parnassiens wie der Symbolisten, bekannte sich zu einem völlig unsozialen Kult der Form, der reinen Schönheit und der Kunst um der Kunst willen. In ihrem Kreise schien es hundermal wichtiger, neue Nuancen des Ausdrucks, der Reimtechnik, der Charakterisierung zu finden, als mit formal fragwürdigen Kunstwerken den Wünschen breiter Abnehmerkreise zu genügen. Die Kultur des 'mot juste', des eindeutigen, einzig richtigen, nicht austauschbaren Adjektivs oder Substantivs war die vornehmste Aufgabe des Künstlers. In der Wirkung war Breite und Massenhaftigkeit unerwünscht. Wer aber neue Saiten im Geist und in der Seele des Kenners anrührte, wer den 'nouveau frisson' herzustellen wußte, dem gehörte die Zukunft. Von der Gegenwart zu reden, wäre in diesen Zirkeln schlechtester Ton gewesen.


Ravel gehörte als Jüngling und Student des Conservatoire bedingungslos zu den Ästheten des ''l'art pour l'art". Seine Lektüre beweist es ebenso wie die Nomenklatur seiner Klavierstücke, wie die Textwahl seiner Lieder. Der geistige Dandismus, den ihm Vines attestiert, durfte nichts anderes gelten lassen als den Kult der reinen Form. Und was anderes als der 'nouveau frisson' sollte es denn sein, was diese jungen Klang-Alchimisten in den Partituren der Russen, Norweger und ihrer eigenen Zeitgenossen und Landsleute so unermüdlich aufsuchten?


Es gab allerdings Grenzgebiete zwischen den feindlichen Lagern. Schon begann man an die Vereinbarkeit von Sozialkunst und Parnassientum zu glauben. Hatten nicht impressionistische Maler Kohlköpfe und Fleischerläden mit so revolutionären Mitteln dargestellt, daß die Vertreter der führenden Gesellschaften lachend und mit Verwünschungen durch ihre Ausstellungen gingen? Wir werden bald einem Ravel begegnen, der sich an der Schönheit von glühenden Hochöfen berauscht.


Einstweilen genügt ihm die geistige Exklusivität. Auch die gesellschaftliche. Seine frühen Kameraderien haben das gemeinsame Interesse an Musik zur Grundlage. Die Jugendfreunde sind Konservatoristen wie er, Männer und Frauen wie Ricardo, Vines, Florent Schmitt, Jane Bathori. Oder es sind Schaffende, denen er sich geistig verwandt fühlt und an denen er sich orientiert wie der groteke Eric Satie, 'Monsieur le Pauvre', wie er sich gern nennt.


Zwei Kreise außergewöhnlicher Menschen ziehen Ravel um die Jahrhundertwende an. Der eine besteht aus Intellektuellen ohne jeden gesellschaftlichen Ehrgeizz, aber mit höchsten und modernsten Ambitionen im Bereich des Künstlerischen. Der andere dagegen ist gesellschaftlich exklusiv, doch dabei von der großen Neugier und dem wirklichen Respekt für geistige Leistung und für künstlerischen Ruhm erfüllt, die zum Bilde der klassischen und romantischen Pariser Salons gehören. Die Dichterin Colette hat das Milieu geschildert, in dem Ravel Verbindung mit der großen Gesellschaft fand. Sie selbst ist ihm dort in den Jahren ihres und seines jungen Ruhms begegnet, Jahrzehnte bevor es zu der gemeinsamen Arbeit an der Oper "L'enfant et le Sortileges" kam. 


Madame de Saint-Marceau empfing ihre Freunde mittwochs nach dem Abendessen. Man kam, wann es beliebte, die Herren im Straßenanzug, die Damen im hochgeschlossenen Kleid. In zwei mittelgroßen Salons traf man sich: Angehörige des Hochadels, Musiker, Musikfreunde und Kritiker. Die Hausfrau selbst war musiksüchtig. Sie hörte aufmerksam zu, wenn ihre Gäste spielten oder sangen, zwang aber niemanden, auch nicht ihren künstlerisch teilnahmslosen Ehemann, auf die Musik zu achten. Nur Störungen wurden nicht geduldet.


Version: 25.2.2022

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