Der sechste Gesang

Roman von Ernst Schnabel
Nachdichtung des 6. Gesangs der
Odyssee von Homer

interaktive Karte der Odyssee

Makareos schob mir den Schnapskrug zu. Ein wundervoller, süß-beklommener Geruch stieg aus der Kanne, und ich hatte kaum getrunken, da hörte ich ein dumpfes, dunkles Trommeldröhnen in der Ferne, und ich fühlte mich schläfrig und benommen wieder, aber jetzt war die Müdigkeit wie eine Zauberei mit bunten Spiegeln vor meinen Augen. Wir saßen eingesperrt im Bauche einer ungeheuren Galeere und summten, heulten dumpf und ruderten und sahen nichts, und nur der Alte mit dem gelben Turban, der den Mond anrief, der sah das Meer. Ein Esel schrie laut in der Ferne, ein anderer fiel ein. War das die Küste? Die Galeere schoß ins blaue Nichts, der Eselsschrei verstummte. Wir gaben der unsichtbaren Küste keinen Namen.

"Schau aus!" rief er mir zu und wendete im Mondschein, und nach zwei Meilen sah ich den Hafen wieder in der Tiefe unter uns, sah meine Schiffe liegen, und ein Esel schrie herauf, und eine Stunde später sah ich den Morgen im Osten kommen, und sah den Mond, dem wir schon nahe waren, sacht nach Westen sinken und sah die Erde unter mir, hell - halb noch vom Mondlicht, das bis Kreta reichte, und halb vom Morgen schon. Da sah ich Länder! Und der Alte zeigte mit dem Finger, rief mir Namen zu, und ich sah alles, was er wußte, doch wenn ich die Namen wiederholen wollte, waren sie plötzlich nicht mehr wahr. Ägyptos, Hindukush und Samarkand, das klang nach Sternen, und es roch jetzt auch nach Sternen, doch wie ich auffuhr und in die Höhe schauen und die Sterne suchen wollte, war ich schläfrig mit einem Male; es ging mir süß durch alle Glieder und auch zugleich wie Blei.

Von Ernst Schnabels Roman liegt hier eine

Hörspielversion (1955)

Regie: Gert Westphal,
Musik:
Hans Werner Henze

Die Personen und ihre Darsteller

Dauer: 94 Minuten, 40 Sekunden - Nordwestdeutscher Rundfunk (NWDR), 95 Minuten, 00 Sekunden - Südwestfunk (SWF)
Sendedatum: 28.12.1955 NWDR, 04.01.1956 SWF

Einleitung,
Teil 1,
Teil 2,
Teil 3,
Teil 4

Auszüge aus 3. - 5. und 28. Kapitel

"Ich habe dich etwas gefragt!"


Der Mann im Gebüsch [es ist Odysseus] hatte sie unverwandt, verloren angeschaut. Jetzt ging ein Schatten über sein Gesicht hin, wie ein Augenzwinkern. Er stützte sich auf seinen Arm und fragte zurück:


"Verzeih, ich habe dich nicht verstanden. Was war es?"


Nausikaa runzelte die Stirn. Sie wiederholte ihre Frage:


"Wie kommst du hierher? Und, sag, wer bist du?"


Aber wie sie noch sprach, verzagte sie schon. Es war nicht mehr die gleiche Frage wie vordem, das spürte sie. Sie hatte etwas wissen wollen, überrascht, wie sie war, als sie ihn liegen sah im Laub. Doch jetzt hatte er den Kopf gehoben und schaute sie an, und nun bedeutete es gar nichts mehr, noch eine Antwort zu bekommen. Aus Worten war jetzt nichts mehr zu erfahren, nicht die Wahrheit, nicht in diesem Augenblick.


Der Mann lächelte sie an und sagte:


"Du mußt verzeihen, daß ich nicht aufgepaßt habe. Mir ging etwas durch den Kopf, als ich dich sah."


"Was?"


"Eine Erinnerung, sie ist nicht wichtig. Ich habe einen Baum gesehen, dem siehst du ähnlich."


"Das verstehe ich nicht."


"Nein, das verstehst du nicht. Du siehst ihm trotzdem ähnlich. Es war eine Palme, wenn du es wissen willst. Ich sah sie, als ich in Delos war. Sie hat mich damals fast erschreckt."


"Ist Delos weit?"


"Kennst du Delos nicht, Najade?"


"Ich bin keine Najade."


"Das wird man sehen."


Ein Blatt wehte ihm in die Stirn. Er strich es beiseite und sagte: "Gib mir etwas zu essen, ich habe Hunger."


"Du solltest dich erst baden."


"Ja, das will ich tun. Und gibst mir ein Hemd von eurer Bleiche da und dann etwas zu essen. - Wie heißt du?"


Nausikaa sagte ihm ihren Namen.


"Und wie heißt die Insel, auf die wir geraten sind?"


"Wir? Ich wohne hier. Es ist Scheria. - Aber jetzt fragst du mich aus."


"Das ist Scheria!"


Der Mann schaute beiseite einen Augenblick lang, er schloß die Augen halb. Es war, als horchte er über seine Schulter auf eine Stimme hinter seinem Rücken, doch es blieb still. Nausikaa sagte: "Es ist nur eine kleine Insel."


"Ja", sagte der Mann, "Ich weiß es, ich habe von Scheria gehört. Es ist schon lange her."


Er erhob sich halb. Da fiel ihm ein, daß er nackt war unter dem Olivenlaub [nach seinen Irrfahrten, nach seinem letzten und endgültigen Schiffbruch allein ans Ufer getrieben]. Er sagte: "Geh jetzt, ich will mich waschen."


Er sah Nausikaa in der Nähe der Bleiche wieder. Ihre Mägde sammelten die trockene Wäsche ein, legten sie zusammen und verpackten sie auf den Maultierkarren.


Nausikaa gab ihm zu essen. Sie setzte sich so, daß sie ihn beobachten konnte. "Kommst du direkt aus Delos?" begann sie wiederum zu fragen.


"Nein, ich komme aus Ogygia. Ich war allein in meinem Boot. Vorgestern nacht im Sturm ist es untergegangen, da hat es mich hierhergetrieben."


"Vorgestern schon?"


"An Land kam ich erst gestern abend. Ich mußte lange schwimmen."


"Wo wolltest du denn hin?"


Der Mann schaute sie mit schrägem Kopfe an und kaute langsam. Dann sagte er: "Diese Bachmündung hier war übrigens die einzige Stelle, wo ich landen konnte."


"Wer ist dein Vater?"


"Alkinoos. Du kannst hier nicht bleiben, aber komm allein. Ich will nicht, daß du mit uns zusammen ankommst. Und du willst weiter. Wohin nun?"


4.

Ich habe gesagt: "Ich will nach Hause."


Und sie fragte: "Ist das weit?"


Und ich antwortete: " Von Scheria ist nichts mehr weit."


Sie fuhr mit ihren Mägden davon. Ich folgte ihnen. Ich ging langsam. Ein Stück weit sah ich sie noch vor mir auf dem Wege, doch bald gerieten sie mir aus den Augen. Der heiße, duftende Wald hat sie verschluckt, Mädchen, Karren, Rad und Huf. Ich war allein. Eine Eule, die sich in den Tag verflogen hatte, strich vorüber. Auf einem Aste blieb sie sitzen. Tollkirschenaugen blitzten heimlich. Als ich vorbei war, rief sie leise. Das klang, als hätte einer den Mund zu und müßte trotzdem lachen. Ich drehte mich nicht um.


So fing es an mit mir bei den Phäaken. Wo willst du hin? So hat es angefangen. Die Frage war natürlich. Mein Leben lang bin ich gefragt worden, wohin ich wolle, und immer sagte ich: nach Hause. Die Antwort lag in der Luft, und jedermann hat sie verstanden und hingenommen und sich bedenkenlos darauf eingelassen, ich auch. Doch als ich diesmal sagte: "Ich will nach Hause, Nausikaa!" da gab es einen feinen Ton, ein kurzes Zischen in der Luft, und eine Schlinge fiel mir um den Hals. Sie würgte mich. Ich zerrte dran, doch es gelang mir nicht, sie wieder abzustreifen. Wer hat mich eingefangen? - Nausikaa stand auf und ging zu ihrem Maultierkaren. Sie fuhr davon. Sie hat mir nicht geholfen. Ich blieb allein zurück und sah ihr nach. Ich hatte Lust, ihr nachzurufen: "Wohin soll ich denn sonst?"


Aber es fuhr mich an: Nimm dich zusammen. Hast du geglaubt, daß es gerade hier und heute einen gäbe, der eine Antwort weiß?


Ernst Macke, April 1914 'kairouan iii'

Ernst Macke, Kairouan III, 16. April 1914
Quelle: Die Tunis-Reise, floerken.de

- Seht an, wir sind bei den Lotophagen gewesen. Wir haben vom Lotos gegessen und sind ihm verfallen, jeder auf seine Weise. - Als wir vor Troja lagen, hatten uns armenische Hausierer mitunter mit Haschisch versorgt, unter der Hand, versteht sich. Da ich mir nichts aus Illusionen machte, bin ich nie recht auf den Geschmack gekommen. Es steckte nicht viel Phantasie darin. Mir fielen bei klarem Kopfe ganz andere Geschichten ein. Doch mit dem Lotos steht es so: Nicht der Lotosesser wird im Kopfe verrückt, die Welt verrückt sich, rückt ins rechte Licht, versteht ihr das? Nehmt unser Beispiel: Wir waren eine Nacht nur bei den Lotosessern, doch schon am anderen Morgen zeigten unsere Kompaßnadeln nicht mehr nach Norden. Mit Hirngespinsten hat das nichts zu tun, es sei denn, man leugnete die Möglichkeit von objektiven Illusionen.


Bei den Lotophagen entschied sich alles, und es entschied sich kaum für uns. Die Geschichte ist bekannt, man rechnet sie zu den Leiden meiner Irrfahrt, doch ich begreife nicht, warum alle Welt sie eigentlich nur halb erzählt!


Ihr wißt, daß wir neun Tage brauchten, um dem Nordsturm zu entrinnen, der unsere Schiffe nach dem Fall von Troja vor Kap Maleia überfiel. Er blies uns vor sich her wie Stroh. Neun Tage war es Nacht. Am zehnten in der Frühe plötzlich riß der Himmel auf, da fanden wir uns wieder in einem fremden, flachen, brandig weißen Meere. Es war der Golf von Gabès, wie sich herausgestellt hat. Wir setzten Segel und steuerten nach Süden, wo Land in Sicht war, eine Dünenküste, flach, gelb, darüber Palmen, struppig-grün wie Gras. Menix war es, die Barbarei. Ich überließ das Kommando meinem Steuermann Eurylochos, der sich -sein Vater war Phönizier gewesen - in den numidisch-mauretanischen Gewässern auskannte, und kurz nach Mittag liefen wir in den geschützen Hafen von Houmt Souk ein [Ernst Schnabel bereiste von 1931 bis 1939 als Seemann die Welt, teilweise auf Segelschiffen].


Wir waren am Ende unserer Kraft. Meine Leute schliefen, wie sie waren, auf den Ruderbänken ein. Ich raffte mich auf, kroch vor zum Mast und warf das Fall los. Das Segel fiel und deckte alle zu.


Ich wartete, bis meine Schiffe, alle zwölf, im Hafen waren, und hielt mich fest am Want. Langsam wankten sie herein, verwittert, salzüberkrustet. Tauwerk hing vom Rigg und streifte die Hafenmolen. Die toten Segel schwappten. Sie machten, eins nach dem anderen, hinter uns am hohen Bollwerk fest. Das dauerte seine Weile.


So kam es, daß ich die Leute aus der Stadt noch sah, die zu Hunderten auf dem Kai zusammenliefen, hoch über unseren Köpfen. Ich spähte hinauf: Da war der Himmel, blau wieder, glatt, leer, schlüpfrig wie eine Schlangenhaut und nicht zu fassen, und wie aus diesem Himmel ausgeschnitten und auf der Mauerkante aufgereiht unzählige Gesichter. Sie waren gelb und schwarz, Turbane dazwischen, und große, stille Mohrenaugen. Sie blickten freundlich, doch kein Wort fiel. Es war wie eine verabredete Maskerade: kein Gruß, kein Laut, sie fragten nicht, woher und wer wir seien, nichts. Sie sahen aus, als wüßten sie ganz sicher, daß es kein Schicksal gibt oder nichts als Schicksal. Ich wollte ihnen winken und hob die Hand, aber ich war auch am Ende. Ich fiel vornüber auf die Ducht und schlief im selben Augenblick.


Im Dunkeln erst erwachte ich. Ich wußte nicht mehr, wo ich war, und rief: Vom Vorschiff her kam Antwort. Elpenor saß da auf der Reling.


"Wo sind die anderen?" fragte ich und hob den Kopf.


"An Land, Odysseus."


Elpenor, der Dümmste und darum auch der Treueste von allen, hatte mich bewacht. Ich sagte: "Bleib hier an Bord, ich will sie suchen gehen."


Er nickte, half mir auf den Kai hinauf und sah mir nach. Doch später in der Nacht hat er sich auch davongemacht.


Houmt Souk, ich sage euch, ist ein gottverlassenes Nest. Der Hafen, zwei Dutzend Straßen, die sich im Sand verlaufen, das ist alles, und die Häuser blicken aus schiefen Fenstern gelb und verlegen in die Gassen. Dürre Esel standen angebunden an den Türen. Sie ließen die Köpfe hängen und horchten mit spitzen Ohren auf den Himmel. Da stand der Mond. Was für ein Mond, und mitten in der Nacht!


Ein Licht, süß-bitter wie Zikadenschrei. Es war der Mond, auf den die Esel horchten, ein honig-grüner Wüstenmond, und alle Sterne steckten hinter seinem Rücken.


Ich ging verwundert weiter und schaute rechts und links. Singsang hing schläfrig in den Hinterhöfen und taube Luft. Sie roch versengt nach Wüste, nach verwesenden Fischen vom Hafen her, nach Knoblauch und Kamelmist und heimlich auch nach Blumen, aber wie nach welchen, die man nie sieht in seinem Leben. Kein Windhauch. Die Nacht war schwül. Und auch kein Mensch mehr. Die Stadt war leer, als fürchte sie die Pest.


Meine Gefährten fand ich im großen Hofe einer Hafenschänke sitzen. Sie feierten, doch das ging seltsam zu: Sie hatten ganze Körbe von sonderbaren Früchten vor sich stehen - chinesische Datteln, sagten die Eingeborenen, oder Jujub-Beeren - es war Lotos. Und sie tranken eine Art Absinth, destilliert aus diesen Lotos-Früchten und mit Anis versetzt.


Sie saßen stumm und mit verglasten Augen, kauten Lotos und spuckten die Kerne vor sich hin. Ich hielt sie für betrunken, doch ich irrte mich, sie waren schläfrig. Und zwischen ihnen saßen die Mohren aus der Stadt und sangen, und das war sonderbar: da war ein Alter mit einem gelben Turban, der sang den Mond an, mit kurzen, wunderlichen Rufen, die ich nicht verstand; er sang mit hoher Stimme und wie im Traum und wie begeistert, und jedesmal, wenn sein Ruf hoch und schrill den Mond wirklich fast erreichte, die große Insel mitten in der Nacht, fielen die Mohren ein und summten laut und knurrten rauh, und meine Leute wiegten sich. Wer schlug den Takt?


Makareos schob mir den Schnapskrug zu. Ein wundervoller, süß-beklommener Geruch stieg aus der Kanne, und ich hatte kaum getrunken, da hörte ich ein dumpfes, dunkles Trommeldröhnen in der Ferne, und ich fühlte mich schläfrig und benommen wieder, aber jetzt war die Müdigkeit wie eine Zauberei mit bunten Spiegeln vor meinen Augen. Wir saßen eingesperrt im Bauche einer ungeheuren Galeere und summten, heulten dumpf und ruderten und sahen nichts, und nur der Alte mit dem gelben Turban, der den Mond anrief, der sah das Meer. Ein Esel schrie laut in der Ferne, ein anderer fiel ein. War das die Küste? Die Galeere schoß ins blaue Nichts, der Eselsschrei verstummte. Wir gaben der unsichtbaren Küste keinen Namen.


Ich faßte nach dem Krug und trank ihn leer. Da spürte ich den Blick des Alten mit dem Turban. Er winkte mir mit den Augen. Ich stand auf und ging zum Torweg. Er folgte mir, und wie wir auf der Straße standen, sagte er: "Komm schnell! Sie sind in Fahrt jetzt. Komm!"


Und er ging schnell und leicht den Kai hinab mit klappernden Pantoffeln und führte mich zu einem abgelegenen Teil des Hafens. Ich stockte. Im toten Wasser und wie mit Kohle in den Spiegelschein des Mondes eingezeichnet lag eine ganze Flotte halb versunkener Schiffe. Mir sträubten sich die Haare: Maststümpfe spießten aus dem Wasser, geborstene Steven, Klüverbäume. Faule Hulke steckten halb im Mudd. Der Mondschein gluckste und nagte an den nackten Rippen, und immer, wenn sich die Welle lautlos hob, schlürften die Rümpfe schwarzes Wasser, das ihnen wieder aus den Seiten rann, wenn sie sich senkte. Das klang, als stöhnte etwas und ertränke.


Der Alte war auf das Verdeck einer großen Dau gesprungen und machte sich am Mast zu schaffen: "Komm, steh nicht herum. Was staunst du? Auch wir waren einmal heil und jung, als wir zum erstenmal hier einliefen. Komm jetzt her!"


Er holte die Schot an und heißte die Gaffe, doch als er wieder drängte, bin ich ihm gefolgt. Wir liefen aus, und das ging schnell und lautlos. Ich kauerte im Bug der Dau und hielt mich an den Spanten. Das Hafenfeuer hat uns nachgeblinkt, dann waren wir auf See und stiegen auf. Am Mast das große Dreieckssegel aus Nichts hat sich gebläht. Der Alte hielt die Schot mit beiden Händen, aber er lehnte meine Hilfe ab.


"Schau aus!" rief er mir zu und wendete im Mondschein, und nach zwei Meilen sah ich den Hafen wieder in der Tiefe unter uns, sah meine Schiffe liegen, und ein Esel schrie herauf, und eine Stunde später sah ich den Morgen im Osten kommen, und sah den Mond, dem wir schon nahe waren, sacht nach Westen sinken und sah die Erde unter mir, hell - halb noch vom Mondlicht, das bis Kreta reichte, und halb vom Morgen schon. Da sah ich Länder! Und der Alte zeigte mit dem Finger, rief mir Namen zu, und ich sah alles, was er wußte, doch wenn ich die Namen wiederholen wollte, waren sie plötzlich nicht mehr wahr. Ägyptos, Hindukush und Samarkand, das klang nach Sternen [Ernst Schnabel, "Interview mit einem Stern"], und es roch jetzt auch nach Sternen, doch wie ich auffuhr und in die Höhe schauen und die Sterne suchen wollte, war ich schläfrig mit einem Male; es ging mir süß durch alle Glieder und auch zugleich wie Blei.


Im Morgengrauen hat es mich geweckt, was, weiß ich nicht. Ich fand mich auf der Hafenmauer hocken und hob den Kopf und sah mich um. Im Rinnstein lag ein Mann, der schlief.



5

Eine Stunde Wegs, hatte Nausikaa gesagt, und der Mann ging, und der Weg stieg steil an, und er näherte sich jetzt dem Sattel des Tales.


Die Erde wälzte sich schwer nach Osten, blind, blindlings bestrebt, alte Tage gegen neue einzuhandeln. Sie sank mit ihrer Septemberlast langsam in den eigenen Schatten, der um diese Zeit schon hoch über der Sarazenenwüste stand, während es über Troja erst zu dämmern anfing, wo keiner mehr auf neue Tage wartete und niemand wohnte als ein Fledermausschwarm alter Weiber.


Vor Scheria aber stand die Sonne noch einen Fuß hoch über dem Himmel, als der Mann die Höhe erreichte und die große Wegbiegung zum Hafen und zur Stadt der Phäaken hinabzusteigen begann. Das war ein Augenblick von großem Glanz. Der Berg über der Bucht glühte in Goldstaub. Von den Fenstern sprühten Blitze Rot aus allen Häusern. Im Hafen liefen lange Schiffe ein und machten fest am Bollwerk. Rufen und Riemenschlag war in der Luft, und langsam wehten die braunen Fischernetze, die in vielen Masten zum Trocknen hingen. Dann ging die Sonne unter. Von jenseits warf sie noch einen grünen, lautlosen Blitz in alle Augen, die ihr nachgeschaut hatten. Nun wurde es still und grau über der Stadt, der Bucht, der Insel.


28

Er fand sie im Garten, als er sie suchen ging. Sie stießen aneinander, denn es war dunkel unter dem Maulbeerbaum, doch sie erschraken nicht. Sie verließen den Garten und machten die Tür hinter sich zu, und niemand hörte sie, weil sie leise waren. Sie stiegen den Berg hinauf. Harzgeruch hat sie gestreift, aber es war nichts zu sehen von den Bäumen.


Auf der Schulter des Berges lag ein großer Stein. Sie setzten sich, Nausikaa saß vor ihm, und er sah ihren Hals. Es ging in ihm um: Der Göttin habe ich meinen Traum erzählt. Hat sie geredet?


Es wurde Morgen. Die Sterne verschwanden, damit fing es an. Eine Sphäre nach der anderen hob sich sacht vom Himmel ab, erlosch, dann kam das Grau, das große Grau der Luft. Das machte die Welt vollends leer. Ein Augenblick kam jetzt, da lief das Meer zurück in einen grauen Abgrund, der sich nach Osten wälzte, der tauenden Sonne entgegen. Und da war es nicht mehr zu sehen. Und auch der Berg verschwand. Es gab nur noch, was sie mit ihren Händen greifen konnten, nur den Stein noch, auf dem sie saßen, und der löste sich aus dem Grunde, schwebte, fing zu schwanken an, dann flog er hoch. Sie griff hinter sich nach einem Halt und streifte seinen Arm. Sie sagte leise, daß er es kaum hörte: "Wir fliegen ja!"


Und wieder ging es in ihm um: Sie sagt jetzt, was ich dachte. Habe ich es wirklich je gedacht? -


Ich habe gelebt,

um diese Sekunde zu erreichen,

und jetzt weiß ich,

daß ich niemals sterben werde.

Es ist kein Rabe,

was mir weh tut,

es ist der Pfeil in meiner Brust.


Es war der Pfeil, der milde Pfeil, den niemand wieder herausziehen würde aus seiner Schulter, und er wollte nun auch nicht mehr, daß einer ihn davon erlöse. Es war ihm, als habe ihn derselbe Pfeil zum zweiten Male getroffen, nur daß er jetzt von einem anderen Bogenschützen kam. Es war derselbe Pfeil, schwarz war er, er spürte es, und wieder machte er ihm Schmerzen. Sie waren zu ertragen, wenn auch mit Not, doch wenn er jetzt zurückdachte an die Zeit, als er noch nicht verwundet war, von nichts, so war ihm, als hätte er damals gar nicht gelebt. Es war ihm so, und er belog sich nicht, jetzt, wo es in ihm umging. Er fragte nur: Beide Male hat es mich aus dem Hinterhalt getroffen, warum?


Er rührte ihre Schulter an. Sie sah sich um, und er sah ihre Augen, wenn es auch noch viel zu dunkel war, als daß er wirklich irgend etwas hätte sehen können, und sie, sie sagte nur um nicht still zu sein: "Wir fliegen ja!"


Sie küßten sich,

den Sinn voll Furcht.

Der Kuß ging die ganze Minute lang,

den ganzen Rest der Minute,

solange das Grau noch währte,

das Grau und der leere Tau.


Es dauerte, bis sie sich sinken spürten, denn der Stein stürzte. Da war es Morgen und das Meer kam wieder. Er hörte einen Vogel plötzlich in der Luft, fern und einzeln. Beide hörten ihn.



Dann kam ein unruhiger Abend, gefolgt von einer sonderbaren Nacht. Der gleißende Vorhang der Wetterfront hatte sich nicht aufgezogen, und als es dämmerte, sahen wir es in den weiß und hochaufgetürmten scharfrandigen Wolken stumm und wie aus einem blendend blauen Weltall blitzen. Mit der Dunkelheit kam der Sturm und riß an dem Weinlaub, in dem Laternen auf unsere Gesichter wilde Masken warfen.


Im Gebet,

an unserer Tafel,

wirbelte sich eine heiße Flamme

in die schwarze Leere über uns.

Sommernacht in Scheria.


Am Rande eines Sommers

erglüht

zitternd in blauem Dunst

ein träumender Horizont,

wendet sich die Sonnenblume

ihrer heißen Regungslosigkeit entgegen.


In der Tür stand sie -und rief leise: "Du suchst etwas?"


Ich ging zu ihr. Sie stand und lehnte an der Mauer, wie sie in den Gassen stehen und warten.


"Hast du den Mond gesehen?"


Sie schüttelte ihr Haar -und sah mich an. "Wo willst du hin?"


"Wir wollen gemeinsam gehen."


"Jetzt?" lachte sie.


Sie war wunderschön, Sonne und Mond zugleicht. Und ich lachte sie an und sagte:"Warum nicht jetzt?"


"Um diese Zeit? Man reist hier nachts, das solltest du wissen."


Sie war Athene, Göttin des Lichts, das sah ich jetzt.


Wie Träume

liegen die Inseln auf dem Meer,

Einsames Vogelrufen.

So war es von je her.

Vernehmlich werden die Stimmen,

die über der Tiefe sind.

(Th. Storm, "Sommerwatt")


Die Nacht steht atemlos im Fenster. Kein Windhauch, nichts. Nur atemlose weiße Sterne, eine Nacht, die zuende geht. Der Himmel und die schnelle Morgenzeit vermischen sich. Ich finde Dich im Garten, Harzgeruch hat uns gestreift, aber nicht die Nadeln der Bäume. Es wurde Morgen, die Sterne verschwanden, eine Sphäre nach der anderen hob sich sacht vom Himmel, eine Sphäre nach der anderen verlosch, dann kam das Grau, das große Grau der Luft, das machte die Welt ganz leer. Ein Augenblick kam jetzt, da lief das Meer in einen grauen Abgrund, Du sagtest leise: Wir fliegen ja. Ich rührte Deine Schulter an, sah in deine Augen, wenn es auch zu dunkel dafür war. Wir küßten uns eine ganze Minute lang, solange der Tau währte.


Du sendest mir Schiffe und Sterne,

ich hingegen

sehe den Marmor nicht

und erlebe meinen Tag wie morgen,

wo Deine Erde viele Namen hat.


Das große Mühlrad, das unser beider Zukunft aus dem Dunkel schaufelt und uns mit den Geheimnissen des Zweifels überschüttet, das ist göttlich.


Und wir gingen hinaus, und die Sonne war noch nicht aufgegangen, und das Land wälzte sich schwer nach Osten, in den Morgenschein.



Version: 1.1.2019

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Joachim Gruber