Das Neue Denken - Politik im Zeitalter der Globalisierung

Michail Gorbatschow . Vadim Sagladin . Anatoli Tschernjajew 

Originalausgabe Juli 1997

Wilhelm Goldmann Verlag MŸnchen


Zusammenfassung in
Michail Gorbatschow, Das neue Russland: Der Umbruch und das System Putin, 2015,
Teil III - Beunruhigende Neue Welt, Seiten 353 - 356

Hšrbuch, Zeitintervall 4:55:30 - 5:00:55


Inhaltsverzeichnis

Die Herausforderung der allgemeinen menschlichen Werte

Eine der Grundidee des Neuen Denkens ist die PrioritŠt der allgemein menschlichen Werte. Bereits als sie zum ersten Mal geŠu§ert wurde und auch heute noch wird sie immer wieder in Zweifel gezogen. Wer sie ablehnt, verweist darauf, da§ bereits andere Wertesysteme wie die der Klassen, Nationen oder Religionen bestehen. Das eine schlie§t das andere jedoch nicht aus. Alle diese Werte haben ihre Existenzberechtigung. Und doch gebŸhrt den allgemein menschlichen Werten PrioritŠt. Das ist das objektive Ergebnis einer langen und komplizierten Entwicklung. Die Geschichte der Menschheit ist in bedeutendem Ma§e eine Geschichte ihrer Werte, von denen moralische Orientierungen ausgehen, die letzten Endes das Verhalten der verschiedenen Gemeinschaften von Menschen bestimmen. An jeder gro§en historischen Wende wechselten diese Werte, erfuhren eine Anreicherung oder Verarmung. Ihre Grundlage ist jedoch immer dieselbe geblieben. Sie hat den Menschen zum Menschen gemacht. Diese Grundwerte haben in den Weltreligionen ihre Verkšrperung gefunden. Sie haben einsame Humanisten und riesige Menschenmengen inspiriert, verschiedene Ideologien gespeist und starke Massenbewegungen ausgelšst. Die Motive dieser Ideologien und die in diesen Massenbewegungen vertretenen Positionen sind Šu§erst vielfŠltig. Ebenso unterschiedlich sind die Ergebnisse, die sie erreicht haben. Viele scheiterten und verschwanden von der BŸhne der Geschichte, ohne viel zu bewirken. Aber die Grundwerte, fŸr die sie eintraten haben Ÿberlebt. Sie haben ihre Bedeutung bewahrt und werden sie auch in Zukunft bewahren. Denn ohne sie wird der Mensch moralisch zum Tier. "Die Ablehnung oder Zerstšrung diese (religišsen, geistigen, moralischen, kulturellen, staatsbŸrgerlichen oder politischen) Werte", schrieb der gro§e florentinische Humanist Giorgio La Pira, "... fŸhrt unweigerlich zu Ungerechtigkeit, Verfolgung und UnterdrŸckung."

Von einer Krise der Werte sprechen heute die Philosophen und die Vertreter vieler Religionen. Dieser Krise sind die Werke gro§er Schriftsteller gewidmet. Auch die Politiker erinnern nicht selten daran. Aber an der Lage Šndert sich nichts.

UnvergŠngliche moralische GrundsŠtze der Menschheit, die fŸr ein menschliches Leben unabdingbar sind, werden vielfach vergessen oder scheinheilig zur BemŠntelung von Handlungen mi§braucht, die ihnen direkt zuwiderlaufen. Viele der sogenannten neuen Werte eignen sich eher zur BegrŸndung und Rechtfertigung von Egoismus, Eitelkeit und Arroganz, von der Macht des Geldes und von ungezŸgeltem Konsumdenken, denn als vernŸnftige Prinzipien, die mit der menschlichen Natur im Einklang stehen.

Das Dilemma, das schon die Weisen der Antike formulierten - "Sein oder Haben" - tritt in unseren Tagen auf neue, geradezu bedrohliche Weise in Erscheinung. Denn das Leben des Menschen wird immer mehr dem Drang nach Besitz untergeordnet. Konsumdenken und Warenfetischismus, diese negativen Folgen der Marktwirtschaft, drŠngen das Streben nach einer Bereicherung des Geistes und Entwicklung der Kultur, nach Vervollkommnung des menschlichen Denkens und Bewu§tseins weit in den Hintergrund. Die Freiheit des Besitzes gilt als hšchste Errungenschaft der Geschichte, gleichsam als ihr Schlu§punkt. Das aber ist nichts anderes als der Verzicht darauf, nach einer besseren, humaneren, wahrhaft menschlichen Zukunft zu streben.

Wenn die menschliche Gesellschaft mit den entstellten, verlogenen Werten von heute in die Zukunft geht, dann kšnnen wir sie getrost abschreiben. Denn das wŸrde den endgŸltigen Ausstieg des Menschen als Homo sapiens, als das hšchste Werk der Schšpfung bedeuten. Die RŸckkehr zu den aus Jahrhunderten Ÿberkommenen geistigen und moralischen Lebenswerten, zu einer humanistischen, wahrhaft optimistischen Weltsicht ist eine der ganz entscheidenden Aufgaben unserer Zeit. Sie stellt sich der ganzen Menschheit. Sie ist global. Denn ohne diesen Reichtum an Werten, den die Menschen in Jahrtausenden angesammelt haben, werden sie die ihnen drohenden Gefahren nicht bewŠltigen und die Probleme nicht lšsen kšnnen, die als ungeheure Herausforderung vor ihnen stehen. Gerade in unserer Zeit haben die Menschen, hat das ganze Menschengeschlecht auf Grund der Globalisierung seines Daseins, der zunehmenden Einheit und Interdependenz der Welt in allen ihren Teilen gemeinsame, globale Interessen, allen voran das Interesse am eigenen †berleben. Unter diesen UmstŠnden erhalten die ewigen Werte einen besonderen, einen lebensbestimmenden Sinn. Zugleich sind sie noch umfassender geworden.

Da die Menschheit heute real in der Lage ist, sich selbst zu vernichten, weil sie entweder ein atomares Inferno oder eine Umweltkatastrophe auslšst, ist der Wert Leben zu einer planetaren, ja, in gewissem Sinne zu einer tragischen Grš§e geworden. Zum ersten Mal in der Geschichte stellt sich das Problem, nicht nur das Leben eines einzelnen Menschen oder einer Nation zu bewahren, sondern das der ganzen Menschheit.

Der Wert Natur ist heute fŸr den Menschen ein wichtiges Ma§ und Kriterium fŸr den Schutz und die Rettung der menschlichen Gemeinschaft. Auch die Aufgabe, eine Umweltkatastrophe zu verhŸten, stellt sich zweifellos der ganzen Menschheit. Anders kann sie nicht mehr begriffen werden.

Dies alles bedeutet, da§ die Werte der Moral auch in der Weltpolitik materialisiert werden mŸssen. Das erfordert, ein System kollektiver Steuerung der weltweiten Prozesse zu schaffen, von dem bereits die Rede war, eine wirksame gleichberechtigte Zusammenarbeit der Staaten und Všlker zu entwickeln sowie das nationale Interesse und das nationale Handeln gemeinschaftlich dem weltweiten, globalen Interesse und Handeln unterzuordnen. Mit anderen Worten, auch aus der Sicht der Werte ergibt sich die Notwendigkeit einer neuen Politik, die in der Lage ist, die Menschheit aus der Sackgasse zu fŸhren, in der sie heute steckt.

Leider fristen die allgemein menschlichen Werte bis in unsere Tage hŠufig - zu hŠufig!- ein Schattendasein, und die Politik geht ihre eigenen Wege, die diesen Werten sehr fern sind. Dieselben Politiker, die ihre Treue zu den allgemeinen menschlichen Werten versichern, auf die Prinzipien des Humanismus oder die moralischen Gebote der Religion schwšren, vergessen diese sehr schnell, wenn es ans praktische Handeln geht. Dann sind ihre "GrundsŠtze" brutale, egoistische Berechnung, Intoleranz, WillkŸr und Gewalt gegen Menschen, selbst gegen ihre eigenen Landsleute. Bis heute wird das viel zu hŠufig einfach hingenommen. Allerdings kommt es gar nicht so selten vor, da§ die Unmoral der Politiker, ihre Ignoranz gegenŸber den allgemein menschlichen Werten letzten Endes wie ein Bumerang auf sie zurŸckschlŠgt und sie mitsamt ihren Ambitionen von der BŸhne der Geschichte fegt.

Im Jahre 1995 hat die Welt zum 50. Jahrestag der Zerschlagung des Faschismus gedacht. Seine Geschichte ist sicher eines der markantesten und Ÿberzeugendsten Beispiele fŸr das schmŠhliche und totale Scheitern einer Politik, die auf UnterdrŸckung der allgemeinen Menschheitswerte und absoluter Verachtung fŸr jegliche Prinzipien der Moral gegrŸndet war.

Wir kennen auch solche Beispiele aus der sowjetischen Geschichte. Das gilt vor allem fŸr den Stalinismus und seine Folgen. Auch spŠter in der Zeit des Poststalinismus haben der Einmarsch sowjetischer Truppen in Ungarn, in der Tschechoslowakei und Afghanistan, andere Aktionen dieser Art, die den Werten  und GrundsŠtzen des menschlichen Zusammenlebens widersprachen, unserem eigenen Land tiefe Wunden geschlagen.

Heute, da neue Voraussetzungen dafŸr entstanden sind, Politiker fŸr die Mi§achtung der allgemein menschlichen Werte zu verurteilen, reichen Hinweise auf die Geschichte nicht mehr aus.

Heute mŸssen wir an etwas anderes denken: Welche Forderungen stellt die Zeit heute an uns, da das Schicksal keines einzelnen Menschen mehr fŸr sich allein existiert, da die Schicksale aller Erdbewohner aufs engste miteinander verwoben sind?

Kann in dieser Situation noch jemand Ÿbersehen, da§ die Beachtung der allgemein menschlichen Werte ein unabweisbarer Imperativ unserer Zeit ist und da§ es zu katastrophalen Folgen fŸhren kann, wenn diese Werte noch lŠnger mi§achtet oder gar ignoriert werden? Nur wenn man sich auf diese Werte stŸtzt, kann man heute fŸr die gewaltigen globalen Probleme eine Lšsung finden, denen weitere Zuspitzung eine wahre ZeitzŸnderbombe fŸr die Zukunft der Menschheit wŠre.

Wir stellen mit Befriedigung fest, da§ die Vertreter unterschiedlichster, ideologischer Stršmungen und Glaubensbekenntnisse, Wissenschaftler verschiedenster Schulen zu diesem Schlu§ kommen. Aber die Politik bleibt nach wie vor zurŸck. Liegt nicht gerade darin die tiefere Ursache fŸr viele Probleme unserer Tage?

Dabei ist hervorzuheben, da§ gerade in der internationalen Politik einige Werte besonders gro§es Gewicht erhalten. Dazu gehšrt vor allem der Wert Toleranz. Angesichts der wachsenden Vielfalt der Welt hŠngt ihre LebensfŠhigkeit und die ihrer einzelnen Bestandteile in hohem Ma§e davon ab, wie die bestehenden Unterschiede toleriert werden. Die UNO erklŠrte das Jahr 1995 zum Jahr der Toleranz. In ihrer Charta hei§t es, da§ Toleranz unabdingbar ist, um Kriege zu verhindern und den Frieden aufrechtzuerhalten. Das ist zweifellos richtig. Man kann aber auch zugespitzter formulieren: Toleranz ist zu einem entscheidenden Menschheitswert geworden.

Das 20. Jahrhundert ist insgesamt ein Jahrhundert der Intoleranz gewesen. Sowohl in den zwischenmenschlichen Beziehungen als auch in den gesellschaftlichen VerhŠltnissen und in der internationalen Politik hat Intoleranz - geschŸrt von Nationalismus und Rassismus, von der unersŠttlichen Gier nach Profit, nach Territorien, nach Rohstoffquellen und AbsatzmŠrkten - das Klima bestimmt.

In unseren Tagen heizt Intoleranz zahlreiche blutige Konflikte an - von den Republiken des ehemaligen Jugoslawien und Somalia Ÿber Ruanda und Sri Lanka bis nach Afghanistan und Tschetschenien. Das ist eines der PhŠnomene der vergangenen Geschichte und des heutigen Alltags, der keinen einzigen Bereich der menschlichen Beziehungen, keine einzige Region unseres Planeten verschont hat. In den Beziehungen zwischen den Menschen, zwischen ihren Gemeinschaften, zwischen Všlkern und Staaten Toleranz durchzusetzen, wie es die UNO fordert, ist eine Garantie dafŸr, da§ der Wert des Menschen sowie die Freiheit jedes Volkes, jeder Nation und jeder Minderheit anerkannt werden und diese Ÿber ihr Schicksal selbst entscheiden kšnnen.

Toleranz im weitesten Sinne erfordert, die Ansichten des anderen zu respektieren, sich jedes Versuchs zu enthalten, einem anderen seine Auffassungen und †berzeugungen mit Gewalt aufzuzwingen. Das bedeutet Dialog, VerhŸtung von Konflikten und Lšsung von WidersprŸchen.

In der internationalen Politik im engeren Sinne bedeutet Toleranz, nach gegenseitig annehmbaren und auf Interessenausgleich beruhenden Lšsungen zu suchen. Das ist mŸhselige Kleinarbeit, das sind Verhandlungen, die nicht auf ein Nullsummenspiel, sondern auf Kompromisse hinauslaufen, mit denen man auch die schwierigsten Probleme bewŠltigen kann.

Toleranz bedeutet nicht, wie manche sagen, alles zu verzeihen und die WidersprŸche zu ignorieren. Es bedeutet, die Unterschiede als ideologischen, politischen und moralischen Reichtum zu verstehen. Und es ist natŸrlich der Weg zu gegenseitigem VerstŠndnis und gegenseitiger Achtung.

VerstŠndigung ist ein weiterer allgemeiner Menschheitswert. Von VerstŠndigung war und ist in einer Vielzahl internationaler Dokumente die Rede. Aber dieser Begriff wird hŠufig gedankenlos gebraucht, und danach geschieht nichts. Heute kommt es darauf an, diesem Begriff seinen ursprŸnglichen Sinn zurŸckzugeben.

Alle gro§en positiven VerŠnderungen der letzten Jahre waren vor allem deshalb mšglich, weil Staaten, die noch vor kurzem Feinde waren, zu gegenseitiger VerstŠndigung fanden. Das hei§t, sie verstanden und nahmen ihre Interessen wechselseitig zur Kenntnis, fanden einen Ausgleich. VerstŠndigung bedeutet nicht und kann nicht bedeuten, da§ die Unterschiede, vor allem die Unterschiede in den Interessen ignoriert werden. Mit anderen Worten, sie schlie§t nicht aus, da§ die Seiten bei der gemeinsamen und abgestimmten Lšsung von Problemen durchaus verschiedene Absichten verfolgen kšnnen. Aber sie verlangt, da§ Ÿber konkrete Fragen auf Treu und Glauben Vereinbarungen getroffen werden, die man natŸrlich gewissenhaft erfŸllt. Wenn Verpflichtungen nicht ehrlichen Herzens Ÿbernommen und erfŸllt werden, dann ist VerstŠndigung unmšglich. Um aber VerstŠndigung zu erreichen, mu§ man sich vor allem gut kennen, die Sorgen und die Mšglichkeiten des Partners verstehen. Und das nicht nur im Kreise der politischen FŸhrungen oder der Politiker. Wirkliche VerstŠndigung wird vor allem dann erreicht, wenn die Všlker Vertrauen zueinander fassen. DafŸr ist ein unvoreingenommener Umgang der Staaten, Všlker und der einfachen BŸrger miteinander von grundsŠtzlicher Bedeutung.

Das haben die Erfahrungen der letzten Jahre Ÿberzeugend bewiesen. Als seinerzeit breite Kontakte zwischen BŸrgern der UdSSR und der USA angebahnt wurden, verŠnderte sich das VerhŠltnis der beiden Všlker zueinander, begriffen sie, wie sehr sie aufeinander angewiesen und zur Zusammenarbeit regelrecht bestimmt waren. Das wurde zu einem wichtigen Faktor der Politik.

Den Umgang der Všlker miteinander zu fšrdern, die Barrieren abzubauen, die ihm im  Wege stehen, ist eine gemeinsame Aufgabe aller, die wirklich Frieden und friedliche Zusammenarbeit wolle. Eine sehr wichtige Seite dieses Problems ist die enorme Verantwortung der Medien. Man kann leider nicht sagen, da§ sie immer eine positive Rolle spielen. Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk- und Fernsehprogramme jagen der billigen Sensation nach. Oft wird einfach desinformiert, meist in Form einseitiger, voreingenommener Berichterstattung. Damit erziehen sie, ob das jemand will oder nicht, zu Fremdheit und sogar Feindseligkeit zwischen den Všlkern.

Das VerhŠltnis des Westens zu Ru§land ist dafŸr ein gutes Beispiel. In der letzten Zeit versuchen die Medien des Westens, aber leider auch der  NachbarlŠnder Ru§lands in Mittel- und Osteuropa, neues Mi§trauen gegenŸber dem russischen Volk zu sŠen. Es werden Legenden darŸber verbreitet, da§ massenweise radioaktives Material aus Ru§land herausgeschmuggelt wird. Das bestŠtigt sich hŠufig nicht, aber ein Keim des Zweifels ist gelegt. Oder man streut die Vermutung aus, das natŸrliche Streben einiger ehemaliger Republiken der Sowjetunion nach aktiver Zusammenarbeit mit Ru§land sei schon wieder eine Erscheinungsform des russischen Imperialismus...

Offenbar gibt es KrŠfte, die immer noch bedauern, da§ das Feindbild Ru§land, das die Vergangenheit beherrschte, verbla§t ist oder sich ganz und gar verflŸchtigt hat. Diese KrŠfte sŠhen es gern, wenn das Mi§trauen gegenŸber den Russen wiedererstŸnde und die Menschen sich erneut vor einer "Gefahr aus dem Osten" fŸrchteten. Derartige Dinge geschehen nicht von selbst. Hinter solcher LŸgenpropaganda stehen immer bestimmte Interessen und politische Ziele. Wir erwŠhnen das, um zu warnen: Falsche Vorstellungen sind immer die Voraussetzung fŸr Mi§trauen oder die Zerstšrung entstandenen Vertrauens; sie untergraben die VerstŠndigung, die wir heute und morgen so nštig haben.

†brigens sind auch die russischen Medien in dieser Hinsicht nicht ohne SŸnde.

Toleranz, VerstŠndigung und Vertrauen sind untrennbar verbunden mit einem weiteren grundlegenden menschlichen Wert: der SolidaritŠt - SolidaritŠt der Menschen untereinander, mit den nahen und fernen BŸrgern dieses Planeten Erde; SolidaritŠt mit den Armen und Elenden, mit den Leidenden und Obdachlosen.

In den letzten Jahren hat die Welt mehrfach bewegende Beispiele humanistischer SolidaritŠt erlebt. Erinnern wir uns nur an die Welle des MitgefŸhls und der direkten UnterstŸtzung unserer BŸrger nach dem UnglŸck von Tschernobyl, dem Erdbeben in Armenien oder spŠter auf Sachalin. Die Weltgemeinschaft, gesellschaftliche Organisationen und einfache BŸrger bewiesen wahre menschliche SolidaritŠt mit den Kriegsopfern z.B. in Ex-Jugoslawien, mit Menschen, die von Naturkatastrophen betroffen sind. Man kann sicher sagen, da§ der SolidaritŠtsgedanke in der Welt immer tiefere Wurzeln schlŠgt.

Trotz allem ist aber auch ein Defizit an SolidaritŠt spŸrbar. Das betrifft vor allem die Politik der Staaten. Hier mu§ man anstelle von SolidaritŠt zu oft Entfremdung und GleichgŸltigkeit gegenŸber den Leiden von Menschen und ganzen Všlkern erleben. Das betrifft sowohl die Innenpolitik vieler Staaten als auch den internationalen Bereich. Berechnender Egoismus und selbst der Versuch, aus fremdem Leid Vorteil zu schlagen, sind an der Tagesordnung All dies betrifft vor allem das VerhŠltnis des entwickelten Teils der Welt zu den EntwicklungslŠndern. Davon war bereits die Rede. Ja, wir wiederholen auch hier, bestimmte Schritte werden getan. Aber zu oft gewinnt man den Eindruck, da§ viele dieser Schritte vor allem der Beruhigung des eigenen Gewissens dienen. Das es an realer und wirksamer SolidaritŠt mit der "Dritten Welt" mangelt, da ihre BedŸrfnisse ignoriert und eine enge Zusammenarbeit mit ihr verweigert wird, entsteht der NŠhrboden fŸr diktatorische Regime mit ihrem unberechenbaren Verhalten in den zwischenstaatlichen Beziehungen, fŸr zahlreiche innere Konflikte, die Millionen Opfer fordern.

Das 21. Jahrhundert, ja, das ganze nŠchste Jahrtausend wird zu einer Epoche weltweiter Tragšdien werden, wenn humane SolidaritŠt sich nicht gegen die heute so verbreitete Mi§achtung, ja sogar Verachtung des einzelnen Menschen und der Schicksale von Milliarden durchsetzt.

Voltaire Šu§erte einmal, die Geschichte aller Epochen vor seiner Zeit sei eine Geschichte des Fanatismus gewesen. Man kann sagen, da§ die Geschichte der beiden nachfolgenden Jahrhunderte eine Geschichte der Ideologien, genauer gesagt, der ideologisierten Politik war. Der Nutzeffekt der in Jahrhunderten angehŠuften Erkenntnisse, FŠhigkeiten und geistigen Potentiale ist im Laufe der Zeit immer stŠrker minimiert worden. Gro§en Einsichten der Wissenschaftler, Denker und Naturforscher verweigerte man die Anerkennung. Das geschah Malthus Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts oder auch Einstein im 20. Jahrhundert. DafŸr wuchs die FŠhigkeit der Menschen zur Selbstvernichtung.

Fanatismus und Ideologien sind auch in unserer Zeit nicht verschwunden. Aber sie haben bedeutende Positionen eingebŸ§t. Die Ideologien allerdings verŠndern ihr Erscheinungsbild und passen sich den neuen UmstŠnden an. Jetzt - nicht wegen einer Laune der MŠchtigen, sondern als Ergebnis objektiver Prozesse - treten wir in eine Welt von anderen Dimensionen ein, in der die allgemein menschlichen Werte lebensbestimmende Bedeutung erlangen. Diese Werte, die ein Erbe der jahrtausendelangen Geschichte der Menschheit sind, zu bewahren, sie in praktische Taten umzusetzen, ist nicht einfach. Das erfordert vor allem ein hohes Niveau der Durchdringung der Probleme der Gegenwart und nicht weniger hohe moralische QualitŠten. Das eine wie das andere ist ohne zielgerichtete Anstrengungen nicht zu haben.

Diese Anstrengungen mŸssen darauf ausgerichtet sein, die kulturellen Voraussetzungen fŸr die Lšsung der entstandenen Aufgaben zu schaffen. Das bedeutet, Bildung und Erziehung zu fšrdern, die Rolle der geistigen Faktoren im Leben der Menschen entschieden zu verstŠrken. Das erlegt den intellektuellen KrŠften der Menschheit eine enorme Verantwortung auf. Gefordert ist die Wissenschaft, die in der Lage sein mu§, unter BerŸcksichtigung aller widersprŸchlichen Entwicklungsfaktoren originelle Lšsungswege zu weisen. Gefordert ist die Kultur, die mit ihren Mitteln eine AnnŠherung von Politik und Moral herbeizufŸhren hat. Gefordert sind die Religionen,  in deren Geschichte die allgemeinen Menschheitswerte stets einen hohen Rang einnahmen.

FŸr die Zukunft wird von erstrangiger Bedeutung sein, da§ die Wissenschaft grš§eres Gewicht erhŠlt. Der Schwerpunkt liegt auf der humanistischen Nutzung ihrer Erkenntnisse. Die Gesellschaft mu§ eine vernŸnftige Kontrolle Ÿber wissenschaftlich-technische Entwicklungen ausŸben, die fŸr den Menschen und die Menschheit gefŠhrliche Folgen haben kšnnen. Wissenschaftliche Erkenntnis mu§ die Politik in weit grš§erem Ma§e befruchten. Nicht geringere, sondern vielleicht sogar grš§ere Bedeutung gewinnt die Vervollkommnung der Bildung. Dabei geht es nicht nur darum, da§ der Ÿberwiegenden Mehrheit der Menschen Zugang zu Bildung und Wissen ermšglicht werden mu§. Es ist auch eine solide Grundlage dafŸr zu schaffen, das moralische Niveau der Bildung zu erhšhen. Die Bildung mu§ die Grundlage dafŸr legen, da§ die Menschen ihre gemeinsamen Probleme erkennen, sie mu§ die junge Weltgemeinschaft vorbereiten.

Dieselbe Aufgabe - zur AnnŠherung der Menschen beitragen - hat auch die Kultur zu lšsen. Die Einheit der Weltgemeinschaft wird unerreichbar sein, wenn es nicht zu einer AnnŠherung der Kulturen auf der Grundlage gemeinsamer Werte kommt. Dabei geht es aber um eine AnnŠherung und gegenseitige Durchdringung der Kulturen, nicht darum, da§ nationale Kulturen andere unterdrŸcken, da§ die EigenstŠndigkeit der zahlreichen Kulturgemeinschaften zerstšrt wird. Nicht gemeint ist damit die weltweite Verbreitung der sogenannten Massenkultur, die die geistige Welt des Menschen nicht bereichert, sondern verwŸstet und verkŸmmern lŠ§t. Schlie§lich ist ein Beitrag der verschiedenen Konfessionen zur gemeinsamen Sache, den allgemeinen Menschheitswerten Ÿberall auf der Welt zum Durchbruch zu verhelfen, undenkbar, ohne da§ die Feindschaft zwischen den Religionen, die Konfrontation der Glaubensbekenntnisse Ÿberwunden wird. Jede Konfession hat ihren eigenen Wert. †kumenisches Handeln, das Zusammenwirken der verschiedenen Religionen und ihrer Stršmungen auf gemeinsamer humanistischer Grundlage ist eine wesentliche Voraussetzung dafŸr, da§ die Menschheit ihre heutigen Schwierigkeiten und Blockaden Ÿberwindet.

Letzten Endes mu§ der vernunftbegabte Mensch sich als globaler Mensch verstehen, als Individuum, das nicht nur fŸr sich selbst und fŸr das Schicksal seiner Gemeinschaft, sondern fŸr den Erdball, fŸr die ganze Menschheit Verantwortung Ÿbernimmt. Heute schenkt die Weltšffentlichkeit den Problemen der Rechte des Menschen, der Nationen und Minderheiten gro§e Beachtung. Das ist gerechtfertigt. Ebenso wesentlich ist aber auch die andere Seite der Medaille - die Verantwortung sowohl jedes Individuums als auch jeder nationalen und staatlichen Gemeinschaft vor sich selbst, vor anderen Menschen, anderen Gemeinschaften und vor allem der ganzen Menschheit. Um diese Verantwortung wird allerdings viel weniger Aufhebens gemacht als um die Rechte. Das Leben hat uns die Aufgabe gestellt, nach einer harmonischen Entwicklung des Systems "Erde" zu streben, dem der Mensch und die Ÿbrige Natur angehšren. Diese setzt jedoch zugleich Einheit und gegenseitige Durchdringung von Rechten und Pflichten voraus - Pflichten gegenŸber sich selbst, seinem NŠchsten, gegenŸber den heutigen und kŸnftigen Generationen, gegenŸber der ganzen so gewaltigen und zugleich so kleinen irdischen Welt.

Die Menschheit mu§ globales Denken entwickeln - diese Forderung steht heute unabweisbar auf der Tagesordnung. Es hat gemeinsame Grundlagen mit dem individuellen Denken und entsteht als gesetzmŠ§iges Ergebnis von dessen Entwicklung und Vervollkommnung. Im Grunde genommen ist die ganze Geschichte des Denkens eine Geschichte der Erweiterung seiner Grenzen, seines Horizonts. Nun ist die Zeit gekommen, da§ dieser Horizont den ganzen Erdball umschlie§en mu§.

Bereits heute kšnnen wir beobachten, wie der Mensch sich allmŠhlich eine umfassendere, eine globale Weltsicht zu eigen macht.

Das Individuum, das aus verschiedenen Quellen, vor allem Ÿber Presse, Rundfunk und Fernsehen eine FŸlle von Informationen auch aus den entlegensten Winkeln unserer Erde aufnimmt, wird so, ob es will oder nicht, in den Strudel des Weltgeschehens hineingezogen. So wŠchst im modernen Menschen das VerstŠndnis dafŸr, da§ er mit anderen Menschen zusammenwirken mu§, weil sich sein Leben bereits ganz real in weltweiten Grenzen abspielt. In der Vielfalt der menschlichen Existenz treten immer deutlicher gemeinsame ZŸge hervor. Die Tendenz zur AnnŠherung und gegenseitigen Durchdringung der Všlker und Kulturen ist nicht mehr zu Ÿbersehen. Hindernisse und Grenzen fallen, immer mehr offenbart sich die gemeinsame menschliche Natur der Individuen, die verschiedenen Zweigen des gemeinsamen Baumes der Erdzivilisation entstammen.

Der Mensch prŠgt seine IndividualitŠt, sein Ego immer stŠrker aus, wŠchst zugleich aber auch zu einer universellen Persšnlichkeit, einem Wesen, das seine Verbundenheit mit allen, die auf der Erde leben, stark und tief empfindet. Das ist der Proze§, in dem planetares, globales Denken entsteht. Dieses wiederum stŠrkt das Fundament des Neuen Denkens, das die soziale und geistige Grundlage dafŸr ist, den Weg zu einer neuen Menschheitszivilisation zu suchen.

Diese zivilisatorischen Prozesse bringen das dringende BedŸrfnis hervor, die allgemein menschlichen Werte zu erschlie§en und praktisch anzuwenden.

Auch in diesem Felde ist die Politik im Nachtrab. Die Anforderungen an sie wachsen. Letzten Endes werden auch sie vom Wesen der allgemein menschlichen Werte bestimmt. Bislang hat die Politik die HŸrde, die von den GrundsŠtzen der Moral, von den objektiven UmstŠnden der neuen Zeit bestimmt wird, noch nicht genommen. Wenn die Politiker kŸnftigen Generationen das Leben erhalten wollen, werden sie es lernen mŸssen, diese HŸrde zu nehmen.


Version: 14.1.2017
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