Das Neue Denken - Politik im Zeitalter der Globalisierung
Michail Gorbatschow . Vadim Sagladin . Anatoli Tschernjajew
Originalausgabe Juli 1997
Wilhelm Goldmann Verlag MŸnchen
Zusammenfassung in
Michail Gorbatschow, Das neue Russland: Der Umbruch und das System Putin, 2015,
Teil III - Beunruhigende Neue Welt, Seiten 353 - 356
Hšrbuch, Zeitintervall 4:55:30 - 5:00:55
Das Neue Denken in der postkonfrontativen Welt
Eine politische Bilanz der ersten Jahre nach der Konfrontation fŸhrt uns zu folgenden Schlu§folgerungen:
Die Welt steht heute wieder vor einer schwerwiegenden, wenn nicht sogar kritischen Entscheidung: Entweder lŠ§t sie zu, da§ die heute zu beobachtenden Prozesse weiterlaufen wie bisher, oder sie versucht, mit kollektiven Anstrengungen der Staaten und Všlker auf diese Entwicklung Einflu§ zu nehmen und sie in Bahnen zu lenken, die fŸr alle Seiten gŸnstig sind. Bisher hat niemand erkennen lassen, wie man zu dieser zweiten, rettenden Handlungsvariante kommen kšnnte. Die Situation ist anscheinend unlšsbar. Aber nur anscheinend.
Wir haben bereits darauf hingewiesen, da§ die Lage auch Mitte der achtziger Jahre ausweglos erschien. Niemand wu§te, wie man das WettrŸsten zŸgeln und dem Kalten Krieg ein Ende setzen sollte. Aber es ist erreicht worden! Sehr wichtig war dabei: Beide Seiten kamen allmŠhlich zu der Erkenntnis, da§ von einer anhaltenden Konfrontation tšdliche Gefahr ausgeht. Es war der politische Wille vonnšten, diesem Zustand ein Ende zu setzen.
Heute wird im Grund genommen das gleiche gebraucht:
Bislang ist leider weder das erste noch das zweite oder gar das dritte in Sicht.
Dabei stellt sich die heutige Situation in gewisser Weise betrŠchtlich gŸnstiger dar als vor zehn Jahren. Denn dank der Anstrengungen der Wissenschaft und vieler gesellschaftlichen KrŠfte, sind die Gefahren, die die Weltgemeinschaft bedrohen, heute bekannt. Die Perspektive ist also besser zu erkennen, die negativen Folgen, aber auch die positiven Mšglichkeiten verschiedener Varianten der Politik treten deutlicher hervor. Die Herausforderungen unserer Zeit und der Zukunft sind Ÿberall im GesprŠch.
Au§erdem sind da immer noch die nicht všllig verbrauchten Erfahrungen vergangener Jahre, der †berwindung des Kalten Krieges. Nicht nur die Erfahrungen, sondern auch das in jener Zeit angesammelte Kapital in Form der VertrŠge Ÿber die Reduzierung der atomaren und konventionellen Waffen sowie den Abkommen, die der Verschmutzung und Zerstšrung der Umwelt durch die Staaten bestimmte Grenzen setzen usw. Schlie§lich gibt es das Neue Denken, das als konzeptionelle Basis zur †berwindung des Kalten Krieges diente und seine Bedeutung bis heute nicht verloren hat. Zwar meinen manche, das Neue Denken sei bereits Geschichte, es kšnne die Interessen und Erfordernisse der internationalen Entwicklung von heute nicht mehr reflektieren. Trifft das zu?
Nein, die GrundsŠtze des Neuen Denkens sind nicht veraltet. Mehr noch: Wenn es gelang, mit Hilfe dieser GrundsŠtze die Konfrontation zu Ÿberwinden (obwohl sie seitens des Westens bei weitem nicht immer konsequent angewandt wurden=, dann ist der gegenwŠrtig zu beobachtende RŸckschritt auch wesentlich darauf zurŸckzufŸhren, da§ man diese GrundsŠtze dem Vergessen anheimgegeben, eigensŸchtigen Zielen und Handlungen geopfert hat. Eine der wichtigsten Voraussetzungen, um erneut eine Wende zum Besseren in der Weltpolitik zu erreichen, um die gegenwŠrtige komplizierte †bergangsordnung zu Ÿberwinden, besteht darin, sich erneut den GrundsŠtzen des Neuen Denkens zuzuwenden, solche Lšsungen in der Weltpolitik zu finden, die diesen GrundsŠtzen entsprechen. Dies wollen wir nicht so verstanden wissen, da§ wir dafŸr werben, das Vorgehen und die Methoden der Vergangenheit einfach zu reproduzieren, selbst wenn damit Erfolge erzielt wurden. Nein, die Welt ist in stŠndiger Entwicklung, in stŠndiger Evolution begriffen, und auch das Neue Denken mu§ weiterentwickelt werden. Seine GrundsŠtze haben sich insgesamt als richtig erwiesen. Aber die konkreten Lšsungen, die darauf beruhen, mŸssen der neuen, verŠnderten Welt entsprechen.
Unsere Stiftung konzentriert seit ihrer GrŸndung am 2. MŠrz 1992 ihre BemŸhungen darauf, die weitere Entwicklung der Welt zu analysieren und die Schlu§folgerungen des Neuen Denkens auf dieser Grundlage weiter anzureichern. Dabei mu§te den politischen, genauer gesagt den geopolitischen Erscheinungen, den VerŠnderungen, die in diesem Bereich vor sich gegangen sind, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Diese sind in der Tat betrŠchtlich: An die Stelle der bipolaren Struktur der Welt ist eine neue multipolare, pluralistische Struktur getreten. Das KrŠfteverhŠltnis zwischen den einzelnen Staaten und ihren BŸndnissen hat sich wesentlich verŠndert. Auch die Faktoren, die Gewicht und Einflu§ der Staaten in der Weltpolitik bestimmen, haben sich gewandelt. Wirtschaftliche, wissenschaftlich-technische und technologische Faktoren sind in den Vordergrund getreten. Nicht zufŠllig spricht man heute immer šfter nicht nur von der wachsenden Rolle der Geopolitik, sondern auch der Geoškonomie. Je weiter wir unsere Analyse vorantrieben, desto deutlicher mu§ten wir aber auch erkennen, da§ wir uns nicht allein auf diese geopolitischen und geoškonomischen Probleme beschrŠnken kšnnen. Ihre Untersuchung ist absolut notwendig. Aber damit allein ist es noch nicht mšglich, zu den eigentlichen Ursachen der bestehenden Probleme und Schwierigkeiten vorzudringen, Wege zu ihrer Lšsung und †berwindung zu finden.
Die Entwicklung des gesamten Weltorganismus verlŠuft in einer komplizierten, zumindest zweidimensionalen oder zweischichtigen Struktur. Im Grunde genommen hat sich die ganze Weltgeschichte in dieser zweischichtigen Struktur vollzogen. Aber zu gewissen Zeiten wird sie besonders sichtbar und bringt sehr zugespitzte WidersprŸche hervor.
Nehmen wir die wirtschaftliche Entwicklung. Im 20. Jahrhundert sind die entwickelten LŠnder der Welt von der klassischen industriellen Produktion mit weit verbreiteter Handarbeit Ÿber das Flie§band zur automatisierten Produktion und schlie§lich zur Kybernetisierung und Informationisierung gekommen. Aus der Industriegesellschaft ist eine Gesellschaft geworden, die hŠufig (vielleicht nicht immer ganz prŠzise) als postindustrielle oder Informationsgesellschaft bezeichnet wird.
Diese Prozesse waren natŸrlich mit den AblŠufen verknŸpft, die sich in der ersten, obersten Schicht vollzogen. Zwischen beidem bestand ein ganz eigener Zusammenhang. Der Fortschritt in Wissenschaft und Technik wurde wesentlich von den Erfordernissen der Politik und vom Kampf nach dem Prinzip jeder gegen jeden vorangetrieben.
Sie fŸhrten hšchstens dazu, da§ noch hartnŠckiger versucht wurde, die Welt mit Gewalt zu verŠndern, je nachdem, wer die Geheimnisse der Technik frŸher und vollkommener beherrschte, um sie in blutigen Kriegen oder unblutigen Handelskriegen einzusetzen.
Dies sicherlich nicht immer entsprechend den realen Erfordernissen einer normalen Entwicklung. Hier wirkte wiederum der Einflu§ der oberflŠchlichen Schicht, das konfrontative Wesen der politischen Kultur, der Egoismus der individualistischen Gesellschaft.
So haben wir heute die Situation vor uns, da§ sich zwischen der objektiven Entwicklung und der Politik eine hšchst gefŠhrliche, nicht mehr akzeptable Kluft aufgetan hat. Mit der Zeit ist daraus ein Antagonismus entstanden, der die Welt zersprengen kann. Mit der Einstellung der Konfrontation und der Beendigung des Kalten Krieges trat eine teilweise Aufhebung dieses Widerspruches ein. Die gefŠhrlichste Katastrophe, der Atomkrieg, wurde abgewendet. Aber es ist, wie bereits gesagt,
[I.] UnfŠhigkeit der Politik
[II.] technogenen Entwicklung
[III.] Krise der Formen des gesellschaftlichen Lebens
[IV.] Eruptionen und unerwartee Krisen der Weltwirtschaft
[V.] moralische Abstieg der Persšnlichkeit und der Gesellschaft
[VI.] Krise der Ideen
Aus unserer Sicht kommt es darauf an, die Grundlagen der Existenz der menschlichen Gesellschaft neu zu durchdenken und zu verŠndern, die Krisenerscheinungen zu Ÿberwinden, die diese Grundlagen befallen haben. Unsere Stiftung stellt ihre eigene TŠtigkeit unter das Motto "Zu einer neuen Zivilisation".
NatŸrlich haben wir nicht im Sinn, eine neue Heilslehre zu erfinden oder ein umfassendes Modell zur Erneuerung der Welt vorzulegen. Das Leben hat eindeutig gezeigt, da§ derartige Rezepte und Modelle keinerlei Nutzen bringen. Ganz und gar inakzeptabel sind Versuche, der Gesellschaft mit Gewalt, selbst bei Strafe ihres Unterganges, gewisse kŸnstlich ausgedachte Konzeptionen aufzuzwingen.
Die Errichtung einer solchen Zivilisation ist eine langfristige Aufgabe (die allerdings aus historischer Sicht keinen Aufschub duldet). Kaum jemand in der Welt ist heute jedoch zu den tiefgreifenden und grundlegenden VerŠnderungen bereit, die erforderlich wŠren, um eine solche Zivilisation zu entwickeln. Wenn die Dinge sich so verhalten, ist dann das Motto unserer Stiftung nicht reine Utopie? Nein! Aus jeder Situation gibt es einen Ausweg.
Ohne sofort umfassende VerŠnderungen anzustreben, kann man sich ihnen Schritt fŸr Schritt nŠhern, rasche Lšsungen dort finden, wo sie unabdingbar sind, Teillšsungen akzeptieren oder selbst halbe Schritte dort tun, wo mehr noch nicht mšglich ist. Sie werden die Felder der †bereinstimmung vergrš§ern und den Spielraum fŸr nachfolgende, gewichtigere Schritte erweitern.
Eindeutig inakzeptabel sind heute Schritte oder Ma§nahmen, die auf abrupte, revolutionŠre VerŠnderungen in bestimmten Bereichen der internationalen Beziehungen oder im inneren Leben der Staaten abzielen. In unserer zerbrechlichen und auf jŠhe Wendungen Šu§erst sensibel reagierenden Welt wŠre das der sichere Untergang. Evolution, Reformen, gut durchdachte Transformationen dŸrften das optimale Vorgehen und der richtige Kurs sein. Nach unserer Meinung kann mit der Anwendung der GrundsŠtze des Neuen Denkens durchaus ein schrittweises, aber stetiges Vorankommen gewŠhrleistet werden - bei Achtung der freien Wahl des Entwicklungsweges, ohne jemandes Interessen zu beeintrŠchtigen, ohne die EigenstŠndigkeit und Spezifik der nationalen oder regionalen Zivilisationen zu bedrohen.
Gebraucht werden heute neue Fragestellungen und neue Schlu§folgerungen. Vor allem gilt es, sich auf die Herausforderungen des neuen Jahrtausends zu konzentrieren, das bereits vor der TŸr steht. Denn es sind die Herausforderungen, die nicht nur die Fortexistenz der Menschheit, sondern allen Lebens auf der Erde an uns stellt:
Dies sind:
Man kann einwenden, das alles sei bekannt. Ja, es ist bekannt. An das Gerede von diesen Herausforderungen sind wir seit langem gewšhnt. Aber Gewšhnung stumpft die Wahrnehmung ab, schwŠcht das GespŸr fŸr eine drohende Gefahr. Gewšhnung hindert uns daran, nachzudenken und energisch zu handeln, um diese Gefahr zu bannen. Unter Politikern, zuweilen aber auch aus Kreisen der Wissenschaft wird zur DŠmpfung der Leidenschaften der Gedanke verbreitet, dies alles sei doch sehr Ÿbertrieben, die Dinge wŸrden von selbst ins Lot kommen. Auch bisher seien viele Prognosen nicht eingetroffen...
In Wirklichkeit ist die Fragestellung einfach bis zur BanalitŠt, zugleich aber von provozierendem Ernst. Sie lautet: Kšnnen wir uns den Herausforderungen der Zukunft entziehen?
Die Antwort ist fŸr alle, die sich tiefere Gedanken Ÿber die Zukunft machen, klar wie der Tag: Nein, diesen Herausforderungen, der Suche nach wirksamen Antworten kšnnten wir uns nicht entziehen. Wir haben nicht das Recht dazu. Denn sich ihnen zu entziehen hie§e, Ÿber kŸnftige Generationen das Todesurteil zu sprechen. Wir sind Ÿberzeugt, da§ die Menschheit die Herausforderungen der Zukunft bewŠltigen wird. Was ist dafŸr notwendig?
Wir wollen versuchen, auf diese Frage zu antworten, indem wir die genannten Herausforderungen nacheinander betrachten. Bei der Suche nach Antworten wollen wir sowohl die tiefer liegenden, zivilisatorische als auch die an der OberflŠche liegenden politischen, wirtschaftlichen und weitere Ebenen durchsuchen.
Version: 14.1.2017 |