Das neue Russland: Der Umbruch und das System Putin

von Michail Gorbatschow


Exzerpte

Dies sind alle Seiten, auf die der Index unter dem Eintrag "Putin" hinweist.


Ich will damit zeigen, dass folgender Text auf der Rückseite des Buchumschlags irreführend ist:

"Was Putin antreibt, warum er die Konfrontation sucht und den Rückfall in den Kalten Krieg in Kauf nimmt, ist vielen ein Rätsel.

Nicht Michail Gorbatschow. Mit einzigartiger Kennerschaft beschreibt er die Entstehung des "Systems Putin" und rechnet kritisch mit ihm ab. Putin zerstöre um seiner eigenen Macht willen die Errungenschaften der Perestroika in Russland und errichte ein System ohne Zukunft. Deshalb fordert Gorbatschow ein neues politisches System für Russland"


Formatierung mit Bullets (*), Text in [ ] Klammern und Literaturhinweise eingefügt von J. Gruber




Seite 113

Wiederwahl nach Unterbrechung


Seite 123

Abneigung vieler Leute in der Putin'schen Führungsmannschaft gegen die Russische Akademie der Wissenschaften


Seite 129

... Im Laufe des Jahres 1994 reiste ich mit meiner Frau nach Sankt Petersburg, Krasnojarsk, Wladimir, Ufa und Nowgorod.


Von Seiten der Petersburger Stadtregierung war für die Organisation des Besuchs Vize-Bürgermeister Wladimir Putin zuständig. Er ... war aufmerksam und taktvoll, und es wurde deutlich, dass er die Probleme seiner Stadt -und nicht nur dieser- kannte. Beeindruckend waren auch die Begegnungen mit Putins Frau Ljudmila Putin, die Raissa mit kleinen Kunstwerken von Petersburger Kindern bekannt machte.


Seite 188

... Ich bin auch heute noch davon überzeugt, dass Putin damals [in Bezug auf Tschetschenien] richtig entschieden hat. ...


Seite 189

... Dass ich schon damals und später viele Male darauf hingewiesen habe, dass es [zu Tschetschenien] neben dem militärischen Aspekt auch einen politischen gebe und dass man mit der Suche nach einer politischen Lösung so schnell wie möglich beginnen müsse, steht auf einem anderen Blatt. Putin hatte hier zu viel Zeit verstreichen lassen.


... Ende Dezember 1999 veröffentlichte der Ministerpräsident [Putin] in der Nesawissimaja Gaseta einen Beitrag mit dem Titel "Russland an der Grenze der Jahrtausende". ... ich fand darin viele Aussagen, die mir Hoffnung machten. Ich spürte in Putins Worten sein leidenschaftliches Engagement für das Land und die Menschen.


"... Wir brauchen den Staat dort und in dem Maße, wo und wie er unbedingt notwendig ist<Freiheit brauchen wir dort und in dem Maße, wo und wie sie nötig ist."


Eine weitere wichtige These von Putins Artikel bezog sich auf die Notwendigkeit, die Armut zu bekämpfen.


"Für Russland", so schrieb er, "verbieten sich praktisch alle Veränderungen und Schritte, die zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen führen. Hier haben wir, wie man sagt, die äußerste Grenze erreicht. (...) Das ist das vordringlichste soziale Problem."


Seite 190

Dieses Eingeständnis und auch die Wortwahl Putins heben sich eindrucksvoll von den Verlautbarungen ab, die für die Politik Jelzins typisch gewesen waren. Und man muss sagen, dass Putin in den folgenden Jahren mehrmals bewiesen hat, dass ihm das reale Leben und die Probleme der Menschen nicht gleichgültig sind. Er gab ihnen das Gefühl: Hier ist ein Politiker gekommen, der sich um uns sorgt und der darüber nachdenkt, was geschehen muss, um den Menschen ihre Würde zurückzugeben.


Es schien mir richtig, diese Schwerpunkte zu setzen. Doch wer sollte diese neue Politik ausarbeiten und ausführen? Putin war umringt von Leuten aus der Vergangenheit, denen diese Ziele fremd waren. Sie wollten die Macht im Staat wieder privatisieren und nach eigenem Gusto einsetzen.


√úber die Massenmedien rief ich Putin dazu auf, sich so bald wie möglich von diesem Ballast zu befreien, der für ihn selbst und für das Land gefährlich war, und sich von der Umgebung des früheren Präsidenten zu distanzieren. Es war paradox: Er musste mit den Leuten brechen, die ihn nach vorne, an die Macht gebracht hatten. So etwas ist ein schwieriger Schritt.


Schon als Putin noch amtierender Ministerpräsident war, bemerkte ich an ihm nicht nur positive Züge wie Willenskraft, Geist, Selbstdisziplin, die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen und Gegenschläge durchzustehen, sondern auch Besonderheiten seines Charakters und seines Stils, die in mir Befürchtungen weckten. Er machte in diesen Monaten kleine, aber schwerwiegende Fehler. Die Leute machten ihn dafür jedoch nicht verantwortlich, und ich war damit einverstanden. Fehler sind in der Politik unvermeidlich -umso mehr bei einem Mann, der keine Erfahrung damit hat, an der Spitze des Staates zu stehen. Dennoch beunruhigte es mich, dass Putin autoritäre Züge an den Tag legte.


Seite 191

Auf einer Pressekonferenz am 10. März 2000 vertrat ich die Meinung, dass gewisse autoritäre Elemente in Zeiten, in denen das Land eine starke, harte Führung braucht, nicht unbedingt etwas Erschreckendes sein müsse. "Aber natürlich", sagte ich in einem Interview mit der italienischen Zeitung Repubblica, "muss Putin sich entscheiden, ob er langfristig im Namen der Demokratie arbeiten oder versuchen will, auf ein autoritäres System zu setzen. Ich glaube, letzten Endes wird er die richtige Entscheidung treffen."


Zu dieser Zeit beendeten wir in der Gorbatschow-Stiftung die Arbeit an einem Bericht unter dem Namen "Die Selbstverwaltung Russlands". Leiter der Forschergruppe war Georgi Schanasarow, mein Freund und Weggefährte aus den Zeiten der Perestroika. Das Fazit unserer Untersuchung war folgendes: "In sehr naher Zukunft wird es in Russland wohl zu einem gemäßigt autoritären Regime kommen, und die Gesellschaft wird dies positiv aufnehmen. Die politische Elite setzt auf eine Wiedergeburt Russlands als Großmacht, und die russische Gesellschaft, zumindest ihre Mehrheit, hofft darauf, wieder zu Wohlstand zu kommen, wenn Russland erneut zur Großmacht aufgestiegen ist."


Der Bericht gründete sich auf einer fundierten Analyse, einer breiten soziologischen Basis. Er zeichente ein schwieriges und in vielem überzeugendes Bild. Aber völlig einverstanden mit der Schlussfolgerung, dass Russland wahrscheinlich zu einem autoritären Regime würde, konnte ich nicht sein oder, besser gesagt, ich wollte es nicht. Bei der Vorstellung des Berichts in der Stiftung sagte ich: "Der Lauf der Geschichte ist nicht vorherbestimmt. Sehr viel hängt vom Faktor Mensch ab, von den Staatsführern." Ich nahm Wladimir Putin nicht als einen Menschen wahr, den eine kleine Gruppe von Leuten aus dem alten System ausgewählt hatte, sondern als Präisdenten, der vom Volk gewählt worden war.


Seite 192

Ein neues Jahrtausend - ein neuer Präsident


Nach seinem Sieg bei der Präsidentschaftswahl am 26. März 2000 hatte Putin die Möglichkeit, eine wirkliche Personalrochade durchzuführen, und er nutzte sie. Doch nicht alle seine Personalentscheidungen waren glücklich. Das führte dazu, dass Handlungen der Regierung nicht selten in Widerspruch zu den Richtlinien des Präsidenten standen.


Sofort nach der Wahl, bei der Wladimir Putin schon nach dem ersten Wahlgang als Sieger feststand, verfasste ich einen Artikel für die Zeitung Obschtschaja Gaseta.


"Ich habe nicht den Eindruck", so schrieb ich, "dass unser Land am 26. März falsch entschieden hat. Im Gegenteil, der Ausgang der Präsidentschaftswahl gibt Anlass zur Hoffnung auf verschiedene Änderungen, und das nicht nur wegen der Persönlichkeit des neuen Präisdenten, sondern auch wegen der Stimmung in unserer Gesellschaft.


70% der Menschen haben weiterhin die Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft, die Hoffnung, dass sie imstande sein werden, die Lage zu ändern, und das, obwohl es zuvor schien, als hätten sie den Glauben an jeden Anführer und daran, irgendetwas verändern zu können, aufgegeben. Die Wahl Putins war eine Abstimmung dafür, dass es in der Regierung zu Umstrukturierungen kommt. Für den neuen Präsidenten wird es ein ganz besonderer Test, wie entschieden er den Kampf mit der Korruption und der Vorherrschaft der Oligarchen aufnimmt. Man kann von einem neuen Präsidenten nicht unverzüglich Wunder erwarten",


schrieb ich in diesem Artikel und rief dazu auf, Geduld an den Tag zu legen. Ich wusste ja aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist zu arbeiten, wenn um einen herum von allen Seiten um Hilfe gerufen wird. Vor allem bei den ersten Schritten ist Unterstützung wichtiger als jede noch so berechtigte Kritik.


Dabei gab es Anlass zu Kritik und Warnungen: Kurz nach der Wahl begann sofort der Angriff auf den Fernsehsender NTW und die Media-Most-Holding. Ausgeführt wurde die Attacke wie eine Geheimdiensyoperation -ein Stil, der später typisch wurde für die weiteren Aktionen der Regierung: die Durchsuchung von Räumen durch Männer in Masken, die Forderung an die Anwesenden, die Hände zu heben, sich auf den Boden zu legen und so weiter.


Seite 193

Am 15. Mai 2000 gab ich NTW ein Interview und kommentierte diese Ereignisse: "In Russland, einem Land mit unzureichender Erfahrung in Sachen Demokratie", so sagte ich, "braucht man einen Schutzmechanismus gegen autoritäre Tendenzen.


Diese Rolle zu spielen ist Aufgabe der Massenmedien, die das Land objektiv, ehrlich und ernsthaft informieren müssen." Im Vorgehen der Regierung sah ich einen Test -wie die Bevölkerung reagieren würde: "Das ist mehr als nur ein Versuch, Druck auszuüben auf die Holding. Es ist der Versuch, Druck auf die Medien und auf die Gesellschaft auszuüben. Der Versuch, das Land mithilfe von Angst zu regieren, könnte ein √úberschreiten jener Grenzlinie bedeuten, die ein moderat autoritäres Regimevon einem harten autoritären Regime trennt. Ich gehe davon aus, dass der Präsident in dieser Frage eine eindeutige Position bezieht und den starken Druck auf die Medien stoppt."


In dieser Situation musste ich auch meinen eigenen Standpunkt bestimmen. Auf Bitten der Leitung und der Belegschaft von NTW erklärte ich mich bereit, den Gesellschaftsbeirat des Fernsehsenders zu leiten. Zu diesem gehörten auch .... [folgt eine Aufzählung von Personen]. Die Antwort auf die Bemühungen, den unabhängigen Fernsehsender zu retten, war die Festnahme des zuvor aus der Untersuchungshaft entlassenen Media-Most-Chefs Wladimir Gussinski in Spanien auf Antrag der russischen Justitzbehörden.


Es war ofensichtlich, dass hier zwischen den unterschiedlichen Einflussgruppen um den Präidenten ein Kampf stattfand: Jede dieser Gruppen wollte sich das profitable und einflussreiche Medienunternehmen unter den Nagel reißen. Aber das wichtigste Ziel bestand natürlich darin, die Medien an die Kandare zu nehmen und zu zeigen, wer in der russischen Medienlandschaft das Sagen hatte.


Seite 194

Es begann eine zielgerichtete Belagerung des Senders, in deren Verlauf eine ganze Palette von Mitteln angewandt wurde -von Steuerprüfungen und Versuchen, den Sender in den Bankrott zu treiben, bis hin, wie gesagt, zur Festnahme des Media-Most-Eigners Gussinski.


Bei meinen öffentlichen Auftritten macht ich Putin nicht direkt verantwortlich für diese Vorgehen, das der Gesellschaftsbeirat von NTW als "durchdachte Schritte zur Liquidierung nicht nur von NTW, sondern auch anderer unabhängiger Massenmedien, die Andersdenken und unabhängige Meinungen in der Gesellschaft verbreiten können" verurteilte. Ich bemühte mich, dem Präsidenten einen Rückzugsweg offenzuhalten, um eine Eskalation zu vermeiden.


Ende September kam es zu einem Treffen. Wladimir Putin erklärte, er mische sich nicht in die Situation im NTW ein, und bezeichnete die Vorgänge als "Streit zwischen Wirtschaftsobjekten" -und zwar Media-Most und Gazprom-Media. Er sei für unabhängige und objektive Medien, sagte Putin. Wie konnte man damit nicht einverstanden sein? In meinen Gesprächen mit Journalisten gab ich diese Worte Putins wieder, seine Versicherung, er befürworte die Erhaltung von NTW und dessen journalistischer Belegschaft.


Doch die Ereignisse entwickelten sich mit wachsender Geschwindigkeit in die entgegengesetzte Richtung. Ende des Jahres 2000 wurde offensichtlich, dass das Schicksal von NTW vorentschieden gewesen war: Der Sender wurde zur Beute der räuberischen Business-Strukturen, die Media-Most zerschlagen hatten, um kurz darauf von noch schlaueren und berechnenderen Leuten selbst verdrängt zu werden. Den russischen Medien war ein schwerer Schlag versetzt worden. Alle hatten das Signal bekommen: Unterwerft euch, führt die Befehle aus, sonst geht es euch an den Kragen!


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Ich verfolgte die Aktionen Wladimir Putins und blieb ein Unterstützer seines Kurses -nicht uneingeschränkt zwar, aber standhaft. Schließlich hatte er sein Amt in einer sehr schwierigen Zeit antreten müssen. Neben des großen allgemeinen Problemen des Staates und Aufgaben des Präsidenten beanspruchte ihn der Strom von alltäglichen Ereignissen, die seine ständige Aufmerksamkeit erforderten. Oft ist dies eine starke psychische Belastung.


Am 12. August 2000 erschütterte eine Tragödie das Land -der Untergang des Atom-U-Bootes K-141 Kursk. Damals kam die gesamte Besatzung des Schiffs ums Leben -118 Männer. Für die Gesellschaft war das ein schwerer Schock, für den Präsidenten eine ernsthafte Herausforderung.


Die Tragödie lief buchstäblich vor den Augen des ganzen Landes ab. Zuerst schien es, dass ein Teil der Männer gerettet werden könnte, doch bald hatte es den Anschein, als würden die Seeleute der Willkür des Schicksals überlassen. Die Menschen kritisierten das Vorgehen des Militärs scharf, und sie empörten sich auch über den Präisdenten, der im Urlaub war und diesen nicht sofort abbrach. In den Zeitungen wurden Fotos von Putin abgedruckt, die ihn beim Wasserskifahren zeigten.


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So entstand der Eindruck, dass er entweder nicht ausreichend über die Lage informiert war oder diese nicht richtig einschätzte. Das bedeutete einen schweren Schlag für das Vertrauen, das zwischen dem jungen Präsidenten und der Gesellschaft gewachsen war. Putin versuchte später, diesen Fehler wiedergutzumachen, indem er in das Dorf Widjajewo fuhr, wo das U-Boot stationiert gewesen war. Dort traf er sich mit Angehörigen der Toten und führte mit ihnen lange und schwierige Gespräche.


In diesen Tagen musste ich viele Fragen über diese Ereignisse beantworten. Manche Journalisten wie Natella Boltjanskaja vom Radiosender Echo Moskau zogen Parallelen zwischen der Tragödie mit der Kursk und dem Super-GAU in Tschernobyl. "Der Präsident trägt die Verantwortung für das alles", sagte ich dazu, "genauso wie mich niemand von der Verantwortung, zumindest der moralischen, für das, was damals passiert ist, befreien kann. Aber man darf nicht jeden Fakt und jedes Ereignis am Präsidenten festmachen. Seine Aufgabe, seine Pflicht und seine höchste Verantwortung bestehen darin, Schlussforgerungen aus allem zu ziehen und Wiederholungen zu verhindern. Weil es um Menschenleben geht, um die Sicherheit des Landes und des Staates. Noch einmal", fügte ich hinzu, "Glasnost, Information, freie, unabhängige, verantwortungsvolle Medien. Das sind die Schlüsselmomente, und deshalb muss man unsere Medien respektieren."


In diesen Tagen war ich trotz allem überzeugt, dass der Präisdent und die Gesellschaft in angemessener Weise auf diese Tragödie reagieren würden. "Unheil hat Russland immer zusammengeschweißt", sagte ich in dem Interview, "und ich sehe, wie uns auch diese Tragödie einander näher rücken lässt. Ich will, dass auch die Regierung jetzt so handelt, dass diese Vereinigung zu einem besseren gegenseitigen Verständnis von Gesellschaft und Regierung führt." Die darauf folgenden Ereignisse zeigten, dass meine Einschätzung zutreffend war.


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Putin und die Demokratie


Das wichtigste Thema im ganzen ersten Jahr und auch in den folgenden Jahren von Putins Präsidentschaft war die Frage nach der Demokratie. Im Großen und Ganzen, so schien es mir, war Putin der Demokratie treu. In diesem Sinne habe ich mich sowohl Freunden als auch Journalisten -russischen wie ausländischen- gegenüber geäußert. Unter Bedingungen, unter denen die Rettung der Staatlichkeit und die Stabilisierung der Wirtschaft oberste Priorität haben, sind harte Maßnahmen nicht zu vermeiden. Dennoch beunruhigten mich, wie gesagt, autoritäre Tendenzen der Regierung, die unsere Staatsorgane und die Institutionen unserer Gesellschaft berühren.


Laut der Verfassung besitzt der russische Präsident von Haus aus gewaltige Machtbefugnisse. doch deshalb darf man die anderen Gewalten weder schwächen noch ihre Eigenständigkeit einschränken. Das betrifft die Gesetzgebung wie die Rechtsprechung und ebenso die Machtorgane in den Regionen. Die Aktivitäten der Zentralregierung entwickelten sich jedoch immer mehr in genau diese Richtung.


Zuerst erfolgte die Aufteilung des Staatsgebiets in 7 "Föderale Bezirke", für die jeweils ein "Bevollmächtigter Vertreter des Präsidenten" ernannt wurde. Diese Entscheidung wurde der Gesellschaft gegenüber nicht ausreichend erklärt, und die Vollmachten und Pflichten dieser Vertreter des Staatsoberhaupts waren nicht klar definiert.


Als Nächstes wurde die Zusammensetzung des Föderationsrats verändert, der zuvor aus den Gouverneuren und den Vorsitzenden der Parlamente der russischen Regionen bestanden hatte. Sie alle waren von den Bürgern gewählt worden. Von nun an wurden aus Moskau ernannte Vertreter des Gouverneurs und der regionalen Gesetzgebungsorgane in den Föderationsrat entsandt. Schon bald zeigte sich, dass viele dieser Leute gar keinen Bezug zu der Region hatten, die sie vertreten sollten. Das schwächte die politische Bedeutung des Föderationsrates, die schon zuvor nicht allzu groß gewesen war, noch weiter.


Seite 200

Der quasi als Kompensation geschaffene Staatsrat, in dem Gouverneure der Reihe nach tagen sollten, hatte nie einen nennenswerten politischen Einfluss. Seine Funktionen sind undurchdringlich, seine Sitzungen finden selten statt.


Was das Unterhaus des Parlaments angeht -die Staatsduma-, so wurde diese mit anderen Methoden gefügig gemacht. Sie konnte schon unter Jelzin keine wesentliche Rolle bei den Entscheidungen über die wichtigsten Probleme des Landes spielen. Hier wirkte sich das Fehlen starker politischer Organe aus, ohne die alle anderen Institutionen zu einer schlichten Imitation der Demokratie werden.


Die Parteien, die zu diesem Zeitpunkt im Lande existierten -also zu Beginn der 2000er Jahre-, machten einen erbärmlichen Eindruck:

Mir war klar, dass sich unser Land mit einem solchen politischen Spektrum nicht aus dem Schraubstock der alten, kompromittierten Politik befreien konnte.


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Bei einem meiner Gespräche mit Wladimir Putin erklärte ich, dass die Gründung einer sozialdemokratischen Partei in der Gesellschaft auf Verständnis und Interesse stoße. Darauf antwortete er (ich zitiere): "na, was wollen Sie denn, unser Land ist ein sozialdemokratisches!" Ich weiß nicht, was Putin heute darüber denkt. Ähnliches hat er jedenfalls schon lange nicht mehr öffentlich geäußert.


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Die Partei der neuen Bürokraten - Einiges Russland


Bald wurde es offensichtlich, dass sich neue Clans formierten, Gruppierungen, die nicht weniger räuberisch waren als die früheren "starken Männer", die sie aus eigensüchtien Motiven von der Macht und den Reichtümern abgeschnitten hatten. Zur Interessenvertretung dieser Leute und der mit ihr unter einer Decke steckenden, wuchernden Bürokratie wurde immer mehr die Partei Einiges Rsussland. Gegen diese negativen Tendenzen anzukämpfen war nur möglich, wenn man die Demokratie weiter entwickelte.


Wie viele andere dchte auch ich unablässig über diese komplizierten Themen nach. Im November 2003 sprach ich darüber mit meinem ständigen Gesprächspartner Dmitri Muratow. Das in der Nowaja Gaseta erschienene Interview trug die Überschrift: "Brauchen wir eine neue Partei der Bürokraten? Ich denke - nein."


Dmitri Muratow: Michail Sergejewitsch, wieso haben sich Meinungsfreiheit und Glasnost, als di Reformen begannen, die später Perestroika genannt wurden, als hilfreich erwiesen? Seither ist nicht so viel Zeit vergangen, aber es zeigt sich, dass Glasnost und Meinungsfreiheit für die heutigen Reformen ein Hindernis darstellen. Wie ist es dazu gekommen?


Ich präzisiere meine Frage: Warum verfolgte zum Beispiel unter Ihrer Regierung das ganze Land gebannt die Fernsehübertragungen des Volksdeputiertenkongresses? Damals erfuhren die Leute zum ersten Mal viel über sich, über Sie, über das Volk. Jetzt hingegen weigert sich die Regierungspartei, an öffentlichen Debatten teilzunehmen.


Michail Gorbatschow: Eine gute Frage ... Was die damalige Zeit angeht, sage ich es ganz offen: Hätten wir nicht zuerst die Glasnost und dann die Meinungsfreiheit gehabt, wäre die Perestroika als Politik, als einzigrtiger, sehr schwieriger und riskanter Prozess nicht ans Laufen gekommen. Ich bin davon überzeugt - und heute noch mehr als damals-, dass uns nichts gelungen wäre.


Was die Weigerung der Regierungspartei betrifft, an den Debatten teilzunehmen, so frage ich mich verwundert: Wer rät ihnen dazu? Es bedeutet doch, dass die Partei Einiges Russland, ohne die Wahlen bereits gewonnen zu haben, nichts mit den anderen Parteien zu tun haben will. Was soll man da für die Zeit nach den Wahlen erwarten? Das ist eie sehr seltsame Vorstellung von Demokratie.


Mit anderen Worten: Bei Weitem nicht alle bestehen die Prüfung durch di Glasnost, durch Freigeit und Demokratie. Das betrifft auch die Presse. Oft ist es so: Ihr seid für volle Freiheit, solange ihr über andere schreibt. Aber wenn irgendwelche Zeitungsartikel selbst ins Scheinwerferlicht geraten, dann betrachtet ihr  das als Anschlag auf die Freiheit und fangt sofort an, eure Kollegen vehement zu verteidigen.


DM: Aber selbstverständlich! Was haben Sie denn gedacht! Genau das ist Freiheit, Solidarität und Zusammengehörigkeit.


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MG: Und mit dieser Zusammengehörigkeit werden auch dort die eigenen Interessen vertreten. Das Ganze ist ein Kampf! Deshalb möchte ich wirklich noch einmal betonen, dass die größten Errungenschaften -das, womit alles begann, womit die Reformen möglich wurden- Glasnost und Freiheit waren. Ich denke, auch jetzt, nach den schweren und schwierigen Jahren von Jelzins Regierung, die uns als Erbe sozusagen ein Chaos hinterlassen haben- auch jetzt ist die These nicht angebracht, dass wir eine starke Hand brauchen.


Überhaupt sind die Diskussionen über einen starken Staat als ein Regierungssystem, das nichts mit Demokratie zu tun hat, absurd. Der stärkste Staat ist der demokratische Staat.


"Ich sehe, dass Präisdent Putin in so einer Situation nicht auf autoritäre Methoden zur Lösung einzelner Probleme verzichten kann", sagte ein früherer französicher Ministerpräsident einmal zu mir und fügte hinzu: "Könnte das nicht dazu führen, dass ein autoritäres Regime entsteht?" "Nein, soweit ich sehe, nicht, so wie ich diesen Menschen, Wladimir Putin, verstehe.", antwortete ich.


DM: Und worauf beruht diese Ansicht?


MG: Ich habe gesagt, was ich fühle. Mit dem Gefühl eines Politikers. Mit der Intuition eines Politikers. Nichtsdestoweniger versuche ich, auf deine Frage zu antworten. Schau dir an, was vor sich geht. Nach Angaben der UNO sind im letzten Viertel des Jahrhunderts mehr als 80 Diktaturen und totalitäre Regime von der politischen Bühne verschwunden. Das heißt, der demokratische Prozess hat die Welt erfasst. Wie viele Diktaturen sind durch freie Wahlen in Zentral- und Osteuropa beendet worden, in der früheren Sowjetunion?


DM: Wie viele?


MG: Und seit dem Ende des 20. Jahrhunderts beobachten wir eine Gegenbewegung. Das beunruhigt mich schon seit einigen Jahren. Im postsowjetischen Raum wird immer öfter versucht, schwierige Probleme mit autoritären Mitteln zu lösen. Bei den Wahlen stimmen die Wähler in vielen Ländern der Welt, sogar in Europa, für Politiker mit autoritären Tendenzen. Die Polititkwissenschaftler haben in Quebec auf ihrer alljährlichen Konferenz folgende Schlussfolgerung gezogen: "Das Problem besteht darin, dass der nicht steuerbare Charakter der Globalisierung das internationale Leben und die inneren Prozesse komplizierter gemacht hat. Mehr noch, die Wissenschaftler gehen davon aus, dass die autoritären Tendenzen nicht nur bestehen bleiben könnte, sondern sogar zunehmen."


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DM: Einfacher ausgedrückt, wird das 21. Jahrhundert zum Jahrhundert des Totalitarismus? Und das rechtfertigt, was in Russland geschieht?


MG: Ich fahre fort: Ich bin nicht einverstanden mt den Politologen und mit anderen Wissenschaftlern, die diese These vertreten. Mir scheint, dass es sich da um vorschnelle Schlussfolgerungen handelt. Man spürt, dass sie in Panik geraten sind. Nur durch demokratische Prozesse kann man die Politik vor Fehlern und Fehlkalkulationen bewahren, nicht nur im nationalen, sondern auch im internationalen Rahmen. Das wichtigste Argument: Niemals und nirgends, so lehrt uns die Geschichte, waren diese Methoden erfolgreich.


Was Russland angeht, so befinden wir uns in einer schwierigen Lage. Aber wir können alle -auch die schwierigsten- Probleme lösen, wenn wir auf dem Weg der Demokratie bleiben. Unsere nationalen Besonderheiten, unsere Mentalität, Kultur und Geschichte, unsere Erfahrungen und unsere Religion - all das wird den demokratischen Prozessen seinen Stempel aufdrücken.


Aber so ist es überall. Darüber herrscht heute Einvernehmen. Ich bin gerade von einem Forum in Okinawa zurückgekommrn, wo sich Vertreter von Ländern getroffen habe, die das Christentum praktizieren, den Islam, den Buddhismus. Unter ihnen waren Politiker wie der US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, frühere Ministerpräsidenten on Japan und Malaysia sowie Vertreter von China und Südkorea. EIne hochkarätige Gesellschaft. Und alle waren sich darüber einig, dass es unmöglich ist, mit Panzern ein demokratisches System in einem Land duchzusetzen. Der strategische Weg der Menschheit in die Zukunft kann nur erfolgreich sein, wenn er auf den Prinzipien von Freiheit und Demokratie basiert.


DM: Ich habe nicht verstanden, Michail Sergejewitsch. Man kann die Demokratie nicht von oben verordnen, aber ohne sie kommt man nicht weiter. Können Sie das ausführen?


MG: Ich will einfach sagen, dass wir, wenn wir es mit Staaten im Übergang zu tun haben, daran denken müssen, dass dafür nicht "zehn Tage" ausreichen und auch nicht "fünfhundert ", sondern Jahrzehnte -und möglicherweise sogar das ganze 21. Jahrhundert. Das ist der Schlüssel zum Verständnis dieser Frage. Unter anderem betrifft es auch die Bedingungen, unter denen Wladimir Putin handelt.


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Ich glaube nicht, dass er es heute als oberste Priorität ansieht, die öffentliche Meinung zu unterdrücken und sich das Land, die Gesellschaft und den Staat untertan zu machen. Das wäre, zum einen, unrealistisch, und zum anderen denke ich, dass es seinen Ansichten widersprechen würde. Als eine Warnung, dass man keine Wende hin zu einem autoritären System zulassen darf, halte ich die Kritik in der Presse für richtig. Aber Präsident Putin diese Sünde vorzuwerfen - dafür gibt es keine Grundlage.


DM: Aber der Machtapparat und sein Funktionieren hängen trotzdem immer von subjektiven Momenten ab, davon, wie sich der Staatschef verhält. Sie sind davon abhängig, das kann man nicht wegdiskutieren. Sie selbst haben versucht, ds Nomenklatura-System zu demontieren, damit die Gesellschaft eigenständig neue Ideen entwickeln und sich neue Werte setzen kann. Die heutigen Machthaber dagegen haben die Politik de facto monopolisiert.


MG: Damals war die Gesellschaft erdrückt. Was hat dagegen Putin als Erbe erhalten? Einen Zustand der Anarchie. Die Gefahr, dass der Staat auseinanderbricht.


DM: Und was bedeutet das? Müssen wir wieder eine Nomenklatura-Partei schaffen?


MG: Nein. Das bedeutet nur eines: Ich hatte die eine Aufgaben, Putin hat eine andere -wiederherzustellen, die Situation zu stabilisieren und die Vorausssetzungen dafür zu schaffen, dass wir weiter den Weg demokraischer Reformen beschreiten können.


DM: Aber scheint es Ihnen nicht, dass eine zielgerichtete Wiederherstellung der Kontrolle über die Bürgerrechte und Freiheiten stattfindet? Wenn man die Verfassung aufschlägt und dann aus dem Fenster schaut, welche Rechte wirklich eingehalten werden und welche nicht, dann wird man ein bemerkenswertes Bild sehen: Es gibt nur eine Partei, das Fernsehen ist monopolisiert, die Presse befindet sich unter Druck.


MG: All das sind Übertreibungen!


DM: Warum?


MG: Weil es Partei Jabloko gibt, es gibt die Partei SPS, die Partei von Schirinowski. Und natürlich die KPRF, die SDPR und andere.


DM: Das habe ich nicht gemeint. Ich habe gesagt, dass -mit Ausnahme der Wahldebatten- faktisch nur eine einzige Partei Zugang zum Fernsehen hat, nämlich Einiges Russland. Das merken alle, darüber lachen alle.


MG: Da hast du in vielem recht. Die Einführung dieser neuen Anforderungen an die Presse kurz vor den Wahlen war ein Fehler. Die Menschen wollen nicht auf die Informationsfreiheit verzichten. Sie wollen mehr über alle Kandidaten erfahren.


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Zeit in der vorgelesenen Version: 3:40:53

DM: Das glaube ich auch.


MG: Und sie wollen nicht auf die Wahlfreiheit verzichten. Aber wenn man auf die Menschen Druck ausübt, ihnen eine Partei aufdrängt, dann beginnen sie zu zweifeln, ob sie zur Wahl gehen sollen. Das Volk unterstützt den Präsidenten, weil er eine Politik im Interesse der Nation betreibt und entsprechend zu handeln versucht. Und die soziale Situation verbessert sich, wenn auch langsam. Das ist das Wichtigste. Was die Arbeitsmethoden des Präsidenten angeht, so beurteilen die Leute diese unterschiedlich.


In diesem Gespräch steckt, wenn ich es heute lese, viel Sorge, viel Kritik. Und nicht nur bei meinem jüngeren, immer besorgten Gesprächspartner, sondern auch bei mir. Und Gründe dafür gab es genügend. Aber ich glaubte damals, die uneingeschränkte, kritische Unterstützung des Präsidenten sei der einzig richtige Weg für mich.



Am 7. Dezember 2003 fanden die Parlamentswahlen statt. Nach der Parteiliste erhielt Einiges Russland 37.6 % der Stimmen -nicht besonders viel für eine Partei, die sich selbst als "Putin-Partei" präsentiert hatte. Natürlich hatte es dieser "Partei der Macht" geholfen, dass Putin beliebt war und dass sich die Lebensverhältnisse der Menschen allmählich verbesserten. Die Hälfte der Kandidaten wurde per Direktwahl in den Wahlkreisen gewählt, und in den meisten Fällen gewannen unabhängige Kandidaten. Diese wurden gleich nach der Wahl massenhaft in die Partei Einiges Russland aufgenommen. Dadurch konnten die "Einheitsrussen", wie die Partei auch genannt wird, ihre Vertretung im Parlament fast verdoppeln und verfügten nun über eine Mehrheit, die ihnen sogar Verfassungsänderungen erlaubte.


Ich frage mich, was das mit dem Wählerwillen zu tun hatte. Es gab viele Hinweise darauf, dass bei der Wahl wieder einmal die bekannten "Technologien" zur Sicherstellung der Wahlbeteiligung und zum Zählen der Stimmen angewandt worden waren, ein unterwürfiges, inhaltsleeres Parlament zu schaffen.


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In einem meiner Interviews kurz vor den Präsidentschaftswahlen am 14. März 2004 sagte ich: "Ich gehe davon aus, dass der Präsident Anlass zum Nachdenken hat, auch über das Ergebnis der Parlamentswahlen. Die Partei Einiges Russland hat so schamlos wie ein Usurpator agiert und das Wohlwollen des Präisdenten ausgenutzt. Man kann sich eine handzahme Duma halten, eine bequeme Duma, aber das könnte traurige Folgen für die Demokratie haben. Die wichtigste Frage ist", so fuhr ich fort, "was der Präsident nach seinem Wahlsieg am 14. März machen wird. Alles hängt davon ab, was für eine Mannschaft er sich aussucht."


Putins zweite Amtszeit


Die Wahlen im März 2004 bestätigten meine Prognose. Putin gewann im ersten Wahlgang. In einer Reaktion auf das Wahlergebnis sagte ich in einem Interview mit Interfax: "Ausgehend von dem vorläufigen Wahlergebnis äußern heute viele Experten die Ansicht, dass alles so weitergehen müsse, wie es jetzt lief, damit alles ruhig bleiben würde, stabil. Ich halte das jedoch für eine falsche Einschätzung. Der hohe Stimmenanteil, den Putin erhalten hat, ist eine Art Vorschuss auf die Zukunft, der zeigt, dass die Menschen weitere Veränderungen erwarten und erhoffen. Deswegen muss der Präsident nun das umsetzen, was man in seiner ersten Amtszeit nicht ernsthaft von ihm fordern konnte."


Am Tag der zweiten Amtseinführung von Wladimir Putin hielt ich mich viele tausend Kilometer von Russland entfernt in Lateinamerika auf. Ich gratulierte ihm und wünschte ihm Erfolg: "Bei der Wahl haben die Wähler ihr Vertrauen in Sie bestätigt. -und ihre Hoffnungen. Sie spüren, dass Ihre Gedanken und Sorgen sich um die Menschen drehen, um das Schicksal Russlands. Ich hoffe, dass in den bevorstehenden vier Jahren die entscheidenden Schritte in Richtung Demokratie unternommen werden, in Richtung Wirtschaftswachstum, Stärkung des Rechtsstaats und Aufbau einer Zivilgesellschaft."


Die weiteren Ereignisse zeigten jedoch, dass die Entwicklng und Stärkung der demokratischen Institutionen von der russischen Führung nicht als eine ihrer vorrangigen Aufgaben gesehen wurden. Schon bald zeigte sich, dass die neue Regierung vom Ministerpräsident Michail Fradkow nicht in der Lage war, eine klare und effektive Modernisierunsstrategie für die russische Wirtschaft zu entwickeln, die geeignet war, die Abhängigkeit von den Rohstoffexporten aufzuheben und den Übergang zu einer Wissensökonomie.


Dabei waren die Bedingungen für ernsthafte Reformen günstig: Die Öl- und Gaspreise stiegen weiter, und dadurch hatte Russland zusätzliche Mittel zur Verfügung, die man nicht nur für die Schaffung von Reserven hätte nutzen können (die natürlich wichtig und nötig waren), sondern auch für Infrastrukturprojekte und die Förderung der Schlüsselbranchen unserer Wirtschaft, zur Finanzierung der Wissenschaft, des Gesundheitswesens und des Sozialwesens. Aber das geschah nicht.


In ihrem alten, nicht reformierten Zustand verbleiben auch die Streitkräfte. In den letzten Jahren der UdSSR hatten wir tief greifende Veränderungen in der Armee angestoßen, auf Grundlage einer neuen Militärdoktrin und nuklearem und konventionellen Abrüstungsabkommen mit dem Westen. Wir hatten auch mit der Konversion der Militärindustrie begonnen, also mit ihrer Umstellung auf zivile Produktion. In den 1990er-Jahren hatte man die Armee dann einfach vergessen. Statt sie  zu reformieren, wurde ihr der Geldhahn zugedreht, man ließ sie mit den Wurzeln sterben und lieferte Abertausende entlassene Militärs der Willkür des Schicksals aus. In den 2000er-Jahren änderte sich daran wenig. Die Regierung konnte sich nicht zu schmerzhaften, aber unbedingt notwendigen Schritten aufraffen und legte damit den Grundstein für das, was in den vergangenen Jahren passierte, als eine kleine Gruppe von Leuten unter dem Anschein einer Modernisierung der Streikräfte deren Vernichtung betrieb, begleitet von einer gewaltigen Korruption.


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Tief beunruhigt war ich auch über die Lage im Kaukasus. In Tschetschenien gelang zwar ein militärischer Sieg über die Separatisten, aber die Politischen Prozesse in der Region bekam die Regierung nicht in Gang, die drängendste Frage der Beziehungen zwischen den Völkern wurde nicht gelöst. Das nutzten die Terrorbanden aus Separatisten und Extremisten aus.


Im September 2004 erschütterte dann die Tragödie von Beslan das Land. Die Terroristen waren mit eineer abscheuichen Frechheit und Unmenschlichkeit vorgegangen. Nachdem sie am 1. September über tausend Geiseln genommen hatten -Kinder, ihre Eltern und Lehrer-, hielten sie diese zweieinhalb Tage lang unter menschenunwürdigen Bedingungen gefangen. Sie verweigerten ihen alles, was sie brauchten, und misshandelten Kinder ebenso wie Erwachsene. Die Sicherheitsbehörden, denen es nicht gelungen war, diesen Terroranschlag zu vereiteln, ware, wie sich herausstellte, auch nicht in der Lage, effektiv darauf zu reagieren. Der Sturm auf die Schule von Beslan, der am 3. September begann, und die anschließenden Schusswechsel endeten in einer großen Tragödie: 334 Menschen starben, darunter 186 Kinder.


Gleich am nächsten Tag flog Wladimir Putin nach Beslan. Er besuchte die Verwundeten im Krankenhaus, sprach den Opfern sein Mitgefühl aus und wandte sich abends in einer fernsehansprche an das russische Volk. Es sei notwendig, sagte er, das Land zu verteidigen, und rief die Menschen dazu auf, nicht in Panik zu verfallen. Damals erklärte er auch, dass er in nächster Zeit Maßnahmen zur Stärkung des Landes und zur Umsetzung eines nachhaltigen Anti-Krisen-Konzepts ergreifen werde. Am 13. September veröffentlichte der präsident dann ein Programm für politische reformen, deren wichtigste darin bestand, dass die Wahl der Gouverneure und die Direktwahl über Wahlkreise in die Duma abgeschafft wurden.


Bei mir stießen diese Aktionen auf Befremden. Meinen Standpunkt erklärte ich in einem Artikel, der in der Zeitung Moskowskije Nowosti erschien:


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Bis heute kann ich keine Ruhe finden nach dem, was in Beslan passiert ist. Seit dieser schrecklichen Tragödie können wir alle nicht so weiterleben wie zuvor. Am allerwichtigsten ist es, den Opfern zu helfen. Die Gorbatschow-Stiftung hat bereits Geld auf das Konto des Roten Kreuzes überwiesen, und jetzt versuchen wir, einzelnen Menschen zu helfen, einzelnen Familien (...)


Ich kann mich nicht damit abfinden, dass die Fachleute aus den Sicherheitsdiensten weder den Terroranschlag selbst noch sein blutiges Ende verhindern konnten. Ich bin überzeugt, dass sowohl Nikolai Patruschew, der Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSP, als auch Innenminister Raschid Nurgalijew persönlich die Verantwortung übernehmen müssen für das, was geschehen ist. Ich denke, der Präsident sieht das genauso und zieht die nötigen Konsequenzen.


Ich habe erwartet, dass die Regierung entschieden auf die Ereignisse reagieren würde. Und vieles, was Präsident Putin in seiner Rede gesagt hat, scheint mir sowohl wichtig als auch notwendig. Ja, zweifelsohne müssen wir die Arbeit der Geheimdienste reformieren, wir müssen gegen die Korruption kämpfen, wir müssen die sozialen Probleme im Nordkaukasus in Angriff nehmen. Den Terrorismus kann man in erster Linie mit Politik besiegen, nicht mit Gewalt.


Im Gegensatz zum Präsidenten bin ich jedoch der Meinung, dass die Terrorakte der letzten Wochen direkt mit den Kriegshandlungen im Kaukasus in Zusammenhang stehen. Schon 1994, während des ersten Tschetschenienkriegs, war für mich klar, welche katastrophalen Folgen dieser Krieg haben würde. Leider habe ich mich mit meiner Einschätzung nicht geirrt (...). Das bedeutet, dass wir erneut nach einer politischen Lösung suchen und mit den gemäßigten Kräften in Verhandlungen treten müssen. Wir müssen sie von den nicht zur Versöhnung bereiten Extremisten absondern.


Ich bin überzeugt, dass sich die Regierung heutzutage bei ihren Handlungen auf die Gesellschaft stützen muss. Wie soll man etwa die Korruption bekämpfen ohne ein normales Parlament und ohne eine freie Presse? Ohne Kontrolle vonseiten der Gesellschaft? Aber in dieser Richtung gibt es keine Bewegung. Es geschieht das genaue Gegenteil: Unter der Parole der Terrorbekämpfung werden die demokratischen Freiheiten beschnitten, den Bürgern wird die Möglichkeit genommen, ihre Meinung über die Regierung direkt auszudrücken - bei freien Wahlen. Uns wird vorgegeben, dass wir uns mit der faktischen Ernennung der Gouverneure abfinden sollen, mit dem Streichen der Wahl über die Direktwahlkreise. Und das alles unter dem Vorzeichen, dass wir heute ohnehin vor allem willfährige Parteien haben. Ich weiß, wovon ich rede. Als wir die sozialdemokratische Partei gründeten, haben wir am eigenen Leib gespürt, wie die Bürokratie uns an Händen und Füßen fesselte. Beim Kampf gegen den Terrorismus ist ein solches System sicher nicht hilfreich. Allerdings wird es leichter, Entscheidungen durchzusetzen, die schmerzhaft für die Wähler sind, wie etwa die Abschaffung sozialer Vergünstigungen.


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Ich hoffe, dass dies für den Präsidenten nur eine mögliche Variante darstellt, eine Idee, die zu diskutieren ist, und keine endgültige Entscheidung. Unsere gemeinsame Aufgabe besteht darin, alles zu tun, was in unseren Möglichkeiten liegt, um zu verhindern, dass die Projekte, die in Wahrheit eine Abkehr von der Demokratie bedeuten, Gesetzeskraft erlangen. Und ich hoffe, dass die Politiker, die Wähler und auch der Präsident selbst die demokratischen Freiheiten bewahren werden, die wir uns so teuer erkaufen mussten.


Leider stellte sich bald heraus, dass Wladimir Putin die Zweifel und Warnungen, die nicht nur ich vorgebracht hatte, in den Wind schlug. Innenminister Nurgalijew und FSB-Chef Patruschew blieben in ihrem Ämtern. Die angekündigten Reformen des politischen Systems wurden mithilfe des gehorsamen Parlaments zügig und entschieden umgesetzt.


Es war kein Zufall, dass ich in meinem Artikel an die Abschaffung der sozialen Vergünstigungen erinnert hatte. Am 22. August 2004 hatte Putin ein Gesetz unterschrieben, das mit den Worten begann: "Das vorliegende föderale Gesetz wird mit dem Ziel verabschiedet, die Rechte und Freiheit der Bürger zu verteidigen." Wenn es nur so gewesen wäre! Was die wirklichen Absichten der Autoren dieses Gesetzes ware, dass es nicht durchdacht war, all das war mit bloßem Auge erkennbar. Die "Monetisierung der Vergünstigungen" betraf auf die eine oder andere Art mehr als 40 Millionen Menschen - Behinderte, Mitlitärs, Weltkriegsveteranen, Veteranen der Arbeit, Rentner und andere Bürger, deren Vergünstigungen aus dem Bundes- oder Regionalhaushalt finanziert wurden. Entscheidungen fällen, die eine derart große Zahl von Menschen betreffen, die ohnehin ein schweres Leben haben, kann man nur, nachdem man alles sorgfältig abgewogen und diskutiert hat und sich dabei auch die Meinung der Betroffenen anhört. Stattdessen agierte die Regierung überfallartig: Sie nahm den Entwurf des Chefideologen der Monetisierung, Michail Surabow, an, die Duma und der Föderationsrat winkten sie durch, und der Präsident unterschrieb alles, ohne zu bemerken, dass es dabei nicht um eine finanzielle, sondern eine politische Frage ging. Die Reaktion der Gesellschaft fiel dementsprechend heftig aus.


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Die Proteste begannen noch bevor der Präsident das Gesetz unterzeichnet hatte: Ende Juli 2004 demonstrieten in Moskau die Tschernobyl-Veteranen, am 2. August gab es Protestaktionen im ganzen Land. Schon damals hätte man auf die Leute hören und alles noch einmal überdenken müssen. Doch im Januar 2005, als die Folgen der Monetisierung die sozial Schwachen und Rentner trafen, gingen die Leute auf die Straße. Das größte Ausmaß erreichten die Protestaktionen in den großen Städten, darunter in den beiden russischen Hauptstädte Moskau und Sankt Petersburg, wo die Rentner sogar einmal eine Zeit lang die wichtigsten Hauptstraßen blockierten -den Newski und den Moskowsi-Prospekt. Parteien, Prominente und sogar Patriarch Alexi II. erklärten, dass sie die Forderungen der Rentner unterstützten.


Die Situation spitzte sich immer mehr zu, und der Präsident musste handeln. Er traf sich ein paar Mal mit der Regierung, schlug vor, einige Punkte in der Rentenreform zu ändern, und gab die Anweisung, den Sold für die Militärs zu erhöhen. Ich weiß nicht, welche Wendung die ganze Sache genommen hätte, wenn Putin nicht diese -wenn auch verspäteten- Schritte getan hätte. Auf einer Pressenonferenz in der Stiftung erklärte ich: "In der Krisensituation nach der Umsetzung des Gesetzes über die sozialen Vergünstigungen hat der Präsident entschlossen reagiert, und jetzt verbessert sich die Lage. Aber die Regierung verdient nur eine einzige Beurteilung - sie hat ein Fiasko erlebt. Alles lief so reibungs- und verantwortungslos, dass sowohl der Präsident als auch das Land in die Enge getrieben wurden. (...) Vielleicht hat es der Präisdent jetzt so schwer wie nie zuvor, aber wir müssen von ihm Aktionen zugunsten der Mehrheit erwarten."


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"Mir scheint", so sagte ich in diesen Tagen in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Interfax, "dass der Präsident entschieden auf die Fehler der Regierung im Sozialwesen reagieren muss. Nach den Wahlen ist er im Föderationsrat mit einer Rede aufgetreten, die viele, darunter auch mich, begeistert hat. Er sprach von einer Offensive gegen die Armut, dem Kampf gegen die Korruption, die Förderung der kleinen und mittelständischen Unternehmen, von einem Wandel zur postindustriellen Gesellschaft. Aber das ist schon eine Weile her, und man bekommt den Eindruck, dass die Regierung ein anderes Programm in die Realität umsetzt, jedenfalls ganz und gar nicht das, was der Präsident angekündigt hatte (...). Ich weiß nicht, was ihn daran hindert, wenn schon nicht die ganze Regierung auszuwechseln, dann wenigstens zu reagieren. Die Regierung nutzt die grenzenlose Geduld unseres Volkes aus." In komprimierter Form spiegelte sich mein Standpunkt auch in der Überschrift eines meiner vielen Interviews mit der Nowaja Gaseta wider: "Ich unterstütze den Präsidenten, aber ich möchte ihn auf meine Besorgnis aufmerksam machen."


Durch die jüngsten Ereignisse war meine Besorgnis angewachsen. Eine solche Haltung den Menschen gegenüber war für mich ein Anzeichen für ernsthafte Mängel in der Einstellung der Regierung nicht nur zur Wirtschaft und zum Sozialwesen, sondern auch zur Politik selbst. Die Abkehr von der Demokratie, über die ich in dem Artikel in der Zeitung Moskowskije Nowosti geschrieben hatte, nahm immer mehr Gestalt an. Darüber und über andere wichtige Fragen sprach ich mit Dmitri Muratow:


Dmitri Muratow: Russland wird offenbar zu einem autoritären Land. Ist Ihrer Ansicht nach noch eine Wende zu einer demokratischen Regierungsform möglich?


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Michail Gorbatschow: Diese Thema beschäftigt und beunruhigt mich sehr, weil ich so einen großen Teil meines Lebens damit verbracht habe, eine Demokratie zu schaffen. Alles wird letzten Endes davon abhängen, welche Wahl unsere heutgen Machthaber treffen. Lassen Sie uns zum Präsidentschaftswahlkampf zurückkehren und ihn analysieren -wer was geäußert hat, darunter auch ich. Ich habe damals gesagt: Dass Putin siegen wird, daran bestehen keine Zweifel. Es gab keine Konkurrenten. Aber ich habe auch offen und mit großer Verantwortung hinzugefügt: Es wäre ein großer Fehler des Präsidenten, wenn er seine zweite Amtszeit nur dazu verwenden würde, um seine Macht zu festigen. Es liegt in seinem Interesse, für das Land zu arbeiten, für seine Bürger. Darin besteht seine wichtigste Funktion. Wenn der Präsident dagegen anfängt, all diese politischen Spielchen zu spielen -dann werde ich enttäuscht sein, und ich denke, dann wird jeder in unserem Land enttäuscht sein. Unabhängig von seinen politischen und ideologischen Ansichten. Bislang waren die wichtigsten Ressourcen, die dem Präsidenten einen klaren Sieg garantierten, die administrativen Ressourcen. Aber ich sage dir: Es gibt keine Ressourcen, die funktionieren, wenn es keine Unterstützung in der Bevölkerung gibt. In so einem Fall kann man nur mit Fälschungen etwas bewirken. Es ist aber durchaus möglich, dass es diese bei der letzten Wahl gar nicht gab. Die Wahrheit ist, dass Fälschungen von solchem Umfang unmöglich sind -es würde auffallen. Der Beliebtheitsgrad von 70% Zustimmung, dessen sich unser Präsident erfreut, hat Wirkung gezeigt.


Das bedeutet, dass die Menschen ihre Hoffnungen auf ihn gesetzt haben. In den Jahren seiner ersten Amtszeit ist es zu einer gewissen Stabilisierung gekommen. Es wurden einige soziale Schritte unternommen. Eine gewisse Kontrolle über die Arbeit der Staatsorgane wurde eingeführt. Ich hatte trotz allem erwartet, dass Putin sein Mandat für die zweite Amtszeit nutzen würde, um sich weiter in Richtung Demokratie vorwärts zu bewegen.


DM: Aber Sie sind noch nicht bereit, in die Reihen der Opposition zu treten?


MG: Ich bin bereit, dem Präsidenten offen zu berichten, was im Land vor sich geht. Ich stelle fest, dass er von dem anweicht, was er angekündigt hat. Das, was vor sich geht, ist ganz und gar nicht das, was das Land erwartet. Wie lange kann man die Menschen in so einem Zustand belassen? Die Monetisierung hat gezeigt, wie gleichgültig, wie zynisch die Machthaber mit den Rentnern umgehen. Das ist doch ein Unding - das Volk zu Demonstrationen zu treiben mit allen möglichen Einfällen dieser Gesetzesschreiber. Was sind das für Gesetzesschreiber! Die gehören entlassen. Und was ist? Niemand ist gegangen. Niemand hat die Verantwortung übernommen. Jetzt hören wir Beteuerungen: Der Präsident hat den Prozess unter Kontrolle. Aber die Frage ist doch: Was sind das für Leute, mit denen der Präsident spricht? Die Menschen wissen nach wie vor nicht, was sie machen sollen, an wen sie sich wenden sollen, wo sie was bekommen. Im Januar herrschte allgemeine Ratlosigkeit. Und Wut, die bei Frost und Kälte kranke Menschen auf die Straße getrieben hat.


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DM: Was hat Sie besonders empört an diesem "Rentneraufstand"?


MG:  Das, was darauf folgte -von den ersten Tagen an: die Suche nach Aufrührern. Sie werden unter denen gesucht, die irgendwohin fahren müssen, um etwas zu erledigen, die Medikamente kaufen müssen - die haben ein Leben! Gleichzeitig sitzen alle wirklichen Aufrührer in der Regierung. Was ist das für ein Apparat? Ich habe einmal vergeblich versucht, sie irgendwie zu rechtfertigen. Es fiel mir schwer zu glauben, dass die Menschen, die an wichtigsten Dokumenten arbeiten, die sich auf Millionen Menschen auswirken, derart kaltherzig und zynisch sein sollen. Das ist doch große Politik! Und es war bitter für mich, zu der Überzeugung zu kommen, dass eine Politik, die das Schicksal von Millionen Menschen wieder und wieder umkrempeln, derart frech und unverschämt auftritt.


Die Einrichtung der "Machtvertikalen" hat ein Chaos entstehen lassen. Die Beamten schauen einfach und warten, bis sie entlassen werden oder ihre Stelle abgebaut wird. Sie wissen einfach nicht, was sie machen sollen. Ich würde es so sagen - man hat es mit der Reorganisation zu weit getrieben. Wenn wir uns weiter auf diesem Weg bewegen, wird sich die Situation zuspitzen.


Es stellt sich heraus, dass die Regierung noch im Juli und August das Bildungswesen und die Medizin in Angriff genommen hat. Ich spreche davon, dass vieles in diesen beiden Gebieten nur noch gegen Geld zu haben ist. Weißt du, was man damit angreift? Die Verfasung. Dort ist in Artikel 42 vorgeschrieben, dass die Bildung kostenlos sei. Jetzt kann es sein, dass den Menschen dieses Recht genommen wird.


Wie verantwortungslos und unmoralisch ist das! Sie haben doch schon eine "Schocktherapie" durchgezogen, sie haben die Privatisierung organisiert und dabei das Volk beraubt. Die Ersparnisse der Bürger in den Sparkassen sind verbrannt. Alles, was den Leuten blieb, war ein miserabler Lohn. Heute erzählen sie uns: Nach der aktuellen riussischen Statistik gibt es nur wenige Arme im Land. Das ist alles Lüge!


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In der Sowjetunion haben wir 1990 das Existenzminimum unter die Lupe genommen - und es angehoben. Der "Korb" enthielt nicht einfach nur die Lebensmittel, die für das Überleben notwendig sind. Wir haben auch Mittel für die Förderung der Kinder eingerechnet. Unter Jelzin hatte es sich die Regierung sehr leicht gemacht: Das Existenzminimum wurde einfach halbiert, und damit hatte man mit einem Schlag nur noch halb so viele Arme! Da kann man den Leuten doch gleich so viel zugestehen, wie es während der Belagerung von Sankt Petersburg im Zweiten Weltkrieg gab - dann haben wir bald gar keine Arme mehr. ...


All diese Dinge vollziehen sich demonstrativ, zynisch, ohne Achtung vor den Menschen. Unter solchen Bedingungen von Demokratie zu sprechen ist beleidigend! Ich verstehe unsere Machthaber einfach nicht: Man stellt sich die Frage: Wo ist denn der Sozialstaat? Wie werden die entsprechenden Vorschriften in der Verfassung ausgeführt? Wenn diese nicht garantiert sind, dann braucht niemand diese Verfassung.


DM: Die Regierung beteuert, dass sie mit der Reform der Medizin und der Bildung dem Vorbild des Westen folge.


MG: All diese Ausreden ärgern mich außerordentlich! Wenn sie schon auf diese Weise die Leute loswerden und sich aus der Verantwortung für die Bürger stehlen wollen -wozu zum Teufel braucht man so eine Regierung? Was tut sie Positives? Und die Verweise auf den Westen entbehren doch jeder Grundlage. Denn dann müsste man den Menschen andere Gehälter zahlen, wenn schon nicht auf amerikanischem, dann doch auf französischem, italienischem oder deutschem Niveau. Dann würden die Menschen bei uns sagen - soll euch der Teufel holen, aber wir bezahlen. Wenn die Menschen anständig verdienen, dann werden sie auch Mittel finden, um sich behandeln und heilen zu lassen, um Bildung zu bekommen. Aber heute sind sie dazu gar nicht in der Lage - vielen reicht das Geld doch kaum zum Überleben. Wenn wir uns für diesen Weg entscheiden, dann kann es sein, dass bei uns im nächster Zukunft sehr dramatische Ereignisse stattfinden.


DM: Welcher Art?


MG: Ich denke, die Menschen werden eine solche Politik einfach nicht länger akzeptieren. Ja, und das Ganze hat doch auch nichts mit Politik zu tun! Die Leute, die den Präisdenten in diese Richtung drängen - das sind seine makroökonomischen Berater, die immer aus der Perspektive der Staatskasse heraus agieren. Aber die Staatskasse füllt sich, wenn die Wirtschaft wächst, wenn neue Arbeitsplätze entstehen, wenn sich die kleinen und mittelständischen Unternehmen entwickeln (...). Wo ist all das? Nichts geschieht in diesem Bereich. Oder zumindest geschieht wenig.


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DM: Erinnert Sie die heutige Situation in Sachen Glasnost an die Zeiten der Stagnation?


MG: Unter Breschniew hatten wir eine Art Neostalinismus. Es gab keine Repressionen, aber alles war unter Kontrolle. Einmal hat ein Arbeiter oder ein Ingenieur auf einem Gewerkschaftskongress das Wort ergriffen und gesagt: "Was ist mit dem Generalsekretär? Ist er etwa nicht der Chef bei uns? Trägt er nicht die Verantwortung? Sofort tagte das Polititbüro - es herrschte der Ausnahmezustand. Wegen dieses Auftritts. Wie hatte man zulassen können, dass es eine solche Wortmeldung auf dem Kongress gab! So eine Demokratie hatten wir, so stand es um Glasnost, um die Meinungsfreiheit. Das ist die Antwort auf deine Frage!


DM: Und noch ein Deja-vu - dass sich die Angriffe auf den Westen häufen, die Klagen über die doppelten Standards - kehren wir zu den Zeiten des Kalten Kriegs zurück?


MG: Das Problem mit den doppelten Standards besteht wirklich. Und darüber muss man direkt und offen sprechen. In den Beziehungen zwischen den Ländern sind Druck und Zurückweisung unzulässig. Wir wissen aus den Zeiten des Kalten Kriegs, wo das hinführen kann. Woran sind alle Länder interessiert? An einer entspannten Atmosphäre, an Dialog, an Zusammenarbeit. Man muss Handel treiben, Technologien und Wissen austauschen. In der Isolation kann sich kein Land sicher fühlen.


DM: Heute gibt es eine seltsame Wiederbelebung der Leitlinien von gestern, der muffigen Lösungen. Was bedeutet das alles?


MG: Ich habe das auch bemerkt. Ist das etwa normal, wenn der Vorsitzende der Duma, Boris Gryslow, plötzlich Stalin preist? Ich war verblüfft. Dann, schon gegen Abend, fing Gryslow an, sich zu rechtfertigen. Am Morgen hatte er eine Dummheit von Stapel gelassen, und abends (...). Nein, das ist kein Stalinismus, das ist irgendeine Mischung. Wir haben vom Tschekismus gesprochen. Das ist, weißt du, eine rein russische Erfindung. Man muss einen normalen Weg finden: Freiheit, Demokratie, Achtung, Offenheit des Landes, Presse- und Meinungsfreiheit. Aber vor alldem hat die Regierung anscheinend Angst. Was fürchtet sie? Am meisten, dass sie Macht verlieren könnte. Ja und? Als ich die Reformen in Angriff nahm, hab ich erklärt, dass ich zwei Wahlperioden im Amt bleiben würde und nicht mehr. Weil es eine derartge Stagnation bei den Kadern, also beim Personal, auf allen Ebenen gab, dass unser Land dadurch buchstäblich gelähmt war und man diese Situation aufbrechen musste. Aber wie? Nicht mit Repressionen wie bei Stalin - sondern mit Demokratie.


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DM: Was geschieht mit Ihrer Partei? Wir haben ja eine neue sozialdemokratische Partei gegründet.


MG: Wir haben sie nicht gegründet, wie das heute üblich ist. Wenn man 30 verschiedene Organisationen zusammenbringt und sich zu einer Partei erklärt. Einer demokratischen, einer superpatriotischen oder einer konservativen. Zu uns kamen Leute, die vorher noch nie einer Partei beigetreten waren. Sie haben gewartet, bis die Zeit reif war für eine sozialdemokratische Partei. Und dann sind sie gekommen - 32 000 Menschen. Weißt du, wie interessant unsere Vollversammlungen und Parteitage waren? Ich habe mit Neid auf diese jungen Leute geschaut - freie, intelligente Menschen.(...). Man musste ein ganzes Leben leben, um von dem Aufsatz Stalin - das ist unser Kriegsruhm in der 10. Klasse auf den Gedanken zu kommen, dass wir den Stalinismus unbedingt überwinden müssen. Von diesem gesamten Erbe, vom Totalitarismus, von unserer Besessenheit. Man muss auch heute noch die Menschen von ihrer Angst vor dem Staat befreien - solange die besteht, kann es keinen demokratischen Staat geben. Wir haben diese Angst nocht nicht überwunden, und schon kehrt sie wieder zurück. ...


DM: Gibt es heute politische Parteien, die in der Lage sind, die Opposition anzuführen?


MG: Heute - nein. Man muss sie aufbauen, und zwar von unten. Die Versuche, per Ableger einer bereits bestehenden Struktur eine neue zu schaffen, sind zum Scheitern verurteilt. Es wird genau das Gleiche entstehen. Auf diese Weise wurde zum Beispiel Einiges Russland gegründet - das Vorbild war die KPdSU. Und was entstanden ist, ist ein Schatten der KPdSU. Wenn sich wirklich freie Menschen mit sozialdemokratischen Ansichten zusammengeschlossen hätten - aus der Partei Vaterland, aus der Partei der Regionen, wenn sie unsere Idee aufgegriffen hätte - das hätte etwas gebracht.


DM: Sind Sie ein Optimist, Michail Sergejewitsch?


MG: Ich bin immer ein Optimist. Man sagt ja, Optimisten seien verantwortungslose Menschen. Nein und nochmals nein! Die Unruhe hat heute alle Länder erfasst - nicht nur Russland. Ich glaube, wir dürfen nicht in Panik geraten. In der Geschichte ist nichts unausweichlich. sie hat immer Alternativen in Reserve. Es gibt immer noch eine andere Lösung. Wir haben es ja nicht mit einer Sintflut zu tun, die überhaupt nicht mit unseren Handlungen, unserer Wahl in Zusammenhang steht. Es ist wichtig, dass wir uns in den historischen Prozess einfügen. Und den kann man nicht außer Kraft setzen. Wie schon Bismarck sagte, muss man die Geschichte beim Vorbeifliegen am Mantel packen. Ein Optimist ist ein Mensch, der alles sieht, analysiert, versteht und gleichzeitig auch eine Antwort gibt. Jede Zeit schafft ihre eigenen Helden - Menschen, die letzten Endes eine Antwort geben.


DM: Sehen Sie solche unter unseren Politikern?


MG: Noch nicht. Aber was soll's. Ich bin auch in dieser Hinsicht Optimist. Der Präsident hat die Möglichkeit, es zu wenden, und nicht nur er. Man darf nicht in Panik verfallen!


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Auf neuem Kurs oder alten Gleisen?

Die jährliche Botschaft des Präsidenten an die Föderalversammlung im April 2005 war gewichtig und gehaltvoll. Putin hatte die Ereignisse des vergangenen Jahres offenbar sorgfältig analysiert und die richtigen Konsequenzen daraus gezogen - die Ausrichtung der Politik der russischen Regierung musste korrigiert werden. Er fand die geeigneten Worte und sprach über eine Offfensive gegen die Armut, den Kampf gegen die Korruption, die Unterstützung der kleinen und mittelständischen Unternehmen, über den Übergang zu einer postindustriellen Gesellschaft. Und er nannte die Prioritäten  


und kündigte an, in diesen Bereichen Nationalprojekte zu starten. Diese Konzept hörte sich interessant und vielversprechend an - die Preiserhöhungen auf den internationalen Rohstoffmärkten sorgten ja für eine Zustrom von Mitteln, die man nutzen konnte, um diese Bereiche aus ihrer Rückständigkeit zu holen. Die Botschaft des Präsidenten veranlasste mich, wieder von meiner Unterstützung für den Kurs des Präsidenten zu sprechen. 


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Aber ... Als ich im Fernsehen die Rede des Präsidenten verfolgte und den Sitzungssaal sah, in dem sich die Abgeordneten und andere Vertreter der russischen "Elite" versammelt hatten, regten sich doch auch große Zweifel. Die bekannten Mienen gelangweilter Männer, die nicht darauf schließen ließen, dass sie an das Schicksal des Landes dachten und sich um dieses sorgten. Im Saal war kein Interesse oder irgendeine Bewegung zu spüren, die darauf hindeutete, dass die Abgeordneten und Apparatschiks bereit waren, die Pläne zu unterstützen, von denen der Präsident sprach - ich hatte den Eindruck, das alles schon einmal gesehen zu haben. Ich dachte zurück an die Präsidentenbotschaft im Mai 2004, die auch eindringlich und verantwortungsbewusst gewesen war, in der er die gleichen Aufgaben formuliert hatte, und ich dachte bei mir, dass es der Präsident sehr schwer hatte [zusätzlich zu den aus der Sicht von westlichen Ökonomen aus eigener Kraft unlösbaren wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Problemen, die Jeffrey Sachs in "What I did in Russia" anspricht].


Es war ein Jahr vergangen, aber statt die vom Präsidenten gestellten Aufgaben in Angriff zu nehmen, bewegte sich die Regierung nach wie vor auf den alten Gleisen. Im Grunde genommen setzte sie noch immer die übliche Strategie um, bei der die makroökonomische Stabilität einen höheren Stellenwert hat als die sozialen, industriellen und landwirtschaftlichen Bereiche. Dort wurde wenig unternommen. Statt dessen erhielten wir die Monetisierung, die das Land empörte und aufwühlte. 

(Monetisierung bezeichnet eine Reform in Russland von 2005, bei der soziale Vergünstigungen wie etwa kostenloses Fahren mit den öffentlichen Verkehrsmitteln oder Rabatte bei den Mieten und Wohnnebenkosten gestrichen und durch eine Geldauszahlung an die Bedürftigen ersetzt wurde).


Und alles zeugte davon, dass in der Regierungsküche noch immer die gleichen Piroggen gebacken wurden - Projekte, die unsere Bildung und Medizin gebührenpflichtig oder zum Teil gebührenpflichtig machen und die Wohnnebenkosten in für die Mehrheit der Bevölkerung unbezahlbare Höhen steigen lassen.


"Ich unterstütze die politische Linie des Präsidenten. Aber die Organe, die diese umsetzen sollen, sind in einem derartig maroden Zustand, dass ich große Zweifel habe, ob dieser Kurs eingehalten wird", antwortete ich auf die Frage eines Korrespondenten von Interfax nach meiner Einstellung zur Botschaft Putins im April 2005 und fügte hinzu: "Ich denke, dass der Moment der Wahrheit gekommen ist, für das Land, für die Gesellschaft."


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Konkret bedeutete dies, dass Russland -wieder einmal- eine neue Regierung und ein neues Parlament brauchte. Ich äußerte meinen Standpunkt auch öffentlich: "Der Präsident muss der Gesellschaft einen entsprechenden Vorschlag machen. Und ich bin überzeugt, die Gesellschaft wird ihn unterstützen. Es muss gehandelt werden."


Mein Aufruf rief unterschiedliche Reaktionen hervor. Wie die Zeitung Iswestija schrieb, die damals in Sachen Qualität, Verantwortungsbewusstsein und Objektivität noch ein anerkanntes Niveau hatte, "waren die kürzlich geäußerten Ratschläge Gorbatschows eine Art Sensation". Aber ich war natürlich nicht auf Sensationen aus. Mir war es wichtig, den Menschen zu erklären, warum ich gerade diesen Ausweg aus der Situastion, in die der Präsident und das Land geraten waren, für den richtigen hielt. Darum ging es auch in einem Interview mit dem Korrespondenten der Iswestija, Alexei Pankin.


Als Sie Präsident Putin kürzlich dazu aufriefen, die Regierung zu entlassen und Neuwahlen der Duma anzusetzen, haben Sie unseren Plan, ein Gespräch über geschichtliche Themen zu führen, "zunichte gemacht" ...


Ich weiß nicht, warum das so gekommen ist, denn ich hatte meine Überlegungen ja im Stillen angestellt.


Trotzdem, wenn der Präsident der Sowjetunion den Präsidenten Russlands zu etws aufruft - dann ist das eine ernste Sache. Warum ausgerechnet jetzt?


Obwohl ich vom Naturell her durchaus manchmal dazu neige zu explodieren, habe ich doch nie die Selbstbeherrschung verloren. Alles, was ich sage, ist überlegt und durchdacht. Mein Ratschlag war die Reaktion auf die Botschaft des Präsidenten an die Föderalversammlung. Meine Reaktion darauf wäre wohl völlig normal ausgefallen, wäre da nicht das gewesen, was der Präsident ganz zu Beginn sagte. Ich muss nicht wiederholen, was er in der Botschaft vom Vorjahr geäußert hatte, und bitte darum, die beiden Botschaften als eigenständig  aufzufassen: Ich würde mich gern auf das Programm konzentrieren, das Putin nun für die Arbeit im kommenden Jahrzehnt vorgeschlagen hat.


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Ich kann sagen, dass ich der Botschaft vom Vorjahr sehr aufmerksam zugehört hatte. Und mit den neuen Ergänzungen zum Thema Staat, Menschenrechte, Justiz plus politische Fragen - ja, da zeichnete sich wirklich das Programm des Präsidenten ab, sein politischer Kurs. Und das hat mich umgehend munter gemacht. Ja, das war ernst gemeint. Ja, das würde ich unterstützen. Doch sofort hieß es, der Präsident habe binnen 24 Stunden seinen politischen Kurs gewechselt. Warum denn, wenn er ihn schon im vergangenen Jahr eingeschlagen hatte?


Allerdings tat sich Putin bei diesen Äußerungen offensichtlich schwer. Wahrscheinlich hat er, das sehen Sie sicher genauso wie ich, seine Gedanken komprimiert und nochmals komprimiert, um sie verständlich zu machen. (...) Er sprach, als ob er keine Luft mehr bekäme. (...) Einige Stimmen im Inland wie im Ausland argumentierten, Putin stehe unter starkem Druck wegen der demokratischen Mängel, wegen der Angriffe auf die Medien. Deshalb habe er versucht, die Lage wieder in Ordnung zu bringen. Aber das trifft meiner Meinung nach nicht zu. Ich habe die Aussagen des Präsidenten als wohlüberlegte Entscheidungen aufgefasst.


Aber wo und wie kann sein Programm umgesetzt werden? Das ist es, was mich beunruhigt. Zählt er dabei auf das Parlament? In der heutigen Duma werden Gesetze mit weitreichenden sozialen Folgen, die genau jenen Teil der Bevölkerung betreffen, um den sich der Staat eigentlich kümmern müsste, ohne die nötige Bearbeitung durchgewinkt. Vielleicht ist ein solches Parlament für bestimmte Leute bequem, aber wozu brauchen wir es? Das Land braucht es nicht.


Also gut, soll es das Parlament sein. Man kann die Duma noch auf den richtigen Weg bringen, obwohl ich, offen gestanden, diesbezüglich wenig Hoffnung habe.


Und die Regierung? Sie war es doch, die uns Anfang des Jahres das Gesetz über die Monetisierung untergeschoben hat. In der Suppe aus der Regierungsküche schwimmen außerdem noch das Bildungssystem, das Gesundheitswesen, die Wohnungs- und Kommunalwirtschaft. Der Ansatz ist stets der gleiche: Alles geschieht auf Kosten des Volkes. Ich bin nicht sicher, dass diese Regierung in der Lage ist, das Programm des Präsidenten umzusetzen. Ich glaube nicht, dass sie fähig ist, all das, was sich aus der Botschaft des Präsidenten ergibt, Wirklichkeit werden zu lassen. Sie können es einfach nicht! Es sind Radikal-Liberale, genauso wie die Gaidar-Regierung, nicht weniger und nicht mehr.


Also muss der erste Schritt sein, die Regierung zu entlassen.


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Haben Sie ein Schattenkabinett im Kopf? Wen würden Sie als Ministerpräsidenten vorschlagen, als Außenminister, als Minister für Verteidigung, Finanzen oder Wirtschaft, zum Beispiel?


Alle haben da Ideen im Kopf, nicht nur ich. Verstehen Sie, dieser Ansatz, nur Petersburger Politiker auszuwählen, hat sich nicht bewährt. Man muss es trotz allem so machen, "wie es die Partei Lenins in ihrer Kaderschule gelehrt hat" - nämlich die Leute nach ihren politischen und professionellen, beruflichen Qualitäten aussuchen.


Nehmen wir einmal an, der Präsident hört auf Ihren zweiten Vorschlag und entlässt die Duma. Nehmen wir einmal an, die Neuwahlen verlaufen absolut ehrlich. Es gibt objektives Fernsehen, die "administrativen Ressourcen" werden nicht eingesetzt. Wie, glauben Sie, würde da das neue Parlament aussehen? Wer, welche Kräfte und in welcher Proportion wären sie dort vertreten?


Ich denke, dass man bei normalen Wahlen ohne alle Fälschungen und Betrügereien, sondern nach den Prinzipien, von denen der Präsident spricht, durchaus aktive Leute aus unserer heutigen Gesellschaft finden kann. Und vor allem muss man ein Parlament zusammenstellen, das demokratische Prinzipien zur Befreiung der Menschen aus der Vorherrschaft der Bürokratie anwendet. Sobald wir das erreicht haben, können wir hoffen, dass sich viele Schleusen öffnen, sowohl für das Unternehmertum als auch für die bürgerlichen Initiativen. Bei uns sind doch auch die lokalen Repräsentationsorgane abhängig von der Bürokratie und werden von ihr erdrückt. Wir haben ein Ungleichgewicht zugunsten der Exekutive, also der vollziehenden Staatsgewalt im Land.



In der Fortsetzung drehte sich das Interview dann doch noch wie geplant um die Geschichte - 2005 jährte sich ja zum 20. Mal der Beginn der Perestroika. Daneben unterhielten wir uns auch über Parallelen zwischen der damaligen und der heutigen Zeit. Und unausweichlich kamen wir auf das Thema Demokratie, die Entstehung ihrer Institutionen und der politischen Parteien zu sprechen.


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Lassen Sie uns über die aktuellen Ereignisse aus der historischen Retrospektive sprechen. Es gibt die These, Putin sei auf seine Art ein neuer Gorbatschow.


Wir sind zwei völlig unterschiedliche Menschen. Völlig unterschiedliche Geschichten, völlig unterschiedliche Biographien. Und eine andere Zeit. Aber ich habe schon vor längerer Zeit gesagt und bleibe bei dieser Ansicht, dass Präsident Putin es zu etwas gebracht hat. Das Leben hat gezeigt; er ist ein tüchtiger und ehrgeiziger Mann, doch momentan muss er sich mit all diesen Einflussgruppen herumschlagen. Und sie alle hören nicht auf, das Staatseigentum unter sich aufzuteilen. 

 

Folgende Parallele: Sowohl Sie als auch Putin sind nach einer Periode mit alten, handlungsunfähigen Staatschefs an die Macht gekommen. Sowohl Sie als auch ihn hat man ausgewählt, weil Sie jung waren, damit Sie das System bewahren und wiederbeleben. Aber Sie und er, die Jungen, sind dann ein wenig vom angedachten Kurs abgewichen. (...)


Wladimir Putin hat in seiner ersten Amtsperiode gute Arbeit geleistet. Wenn es einen Wettbewerb geben würde, wer am meisten Fehler bei ihm findet, dann hätte ich wahrscheinlich mehr entdeckt als irgendjemand anderes. Aber es wäre doch falsch, alles auf diese Weise zu beurteilen. Wenn ein Mensch ein konkretes Projekt umsetzt, wenn er konkrete Aufgaben erledigt, dann kommt es dabei auch zu Rückständen, zu Verspätungen, zu Störungen und sogar zu Fehlern.


Als Putin sein Amt angetreten hat, herrschte überall Chaos - im Sozialwesen, in der Wissenschaft und in der Bildung, in der Medizin, in der Armee, in der Beziehung zwischen der Moskauer Zentralregierung sowie ihren Behörden und den Regionen. Was auch immer man aufzählt - überall Chaos. Ich denke, er hat schon viel erreicht - zumindest, dass er seinen Platz in der Geschichte hat.


Aber jetzt stehen wir vor der Frage: Wie soll es weitergehen? Wie schaffen wir es, dass wir nicht einfach weiter dahinstolpern in dem alten Trott, den wir in vielen Bereichen nicht überwinden konnten, auf den alten Gleisen, die noch aus der Jelzin-Zeit stammen? Wir müssen jetzt eine neue Richtung einschlagen, den Kurs wechseln. Als Putin gerade zum zweiten Mal zum Präsident gewählt worden war, habe ich gesagt: "Es kommt darauf an, was er weiter tun wird. Wenn er seine Vollmachten in seiner zweiten Amtszeit dazu benutzen wird, um seine Macht zu festigen, wenn er weitermacht mit dem Aufbau einer "gelenkten Demokratie" - dann wird das böse enden."


Es gibt noch eine Parallele zur Perestroika. Sie haben konsequent immer mehr und mehr formale Ämter übernommen, und dennoch nahm ihre reale Macht immer weiter ab. Scheint es Ihnen nicht, dass Putin genau den gleichen Weg eingeschlagen hat? Er versucht auch, immer mehr Vollmachten zu bekommen. (...)


Das lässt sich nicht vergleichen. Ich musste das tun, um durch eine neue Verfassung, durch einen politischen Prozess, durch freie Wahlen ein anderes Machtsystem zu schaffen, das sich auf demokratische Prozeduren und Prinzipien stützte. Und um die Staatsgewalten, sowohl die exekutive als auch die anderen aus den Fesseln zu befreien, die ihnen die KPdSU angelegt hatte. Wir standen vor der Aufgabe, ein Regierungssytem für unser Land zu schaffen, da die Streichung des Artikels 6 der Verfassung, in dem das Machtmonopol der KPdSU festgeschrieben war, zur Debatte stand. Als Wladimir Putin sein Amt antrat, war diese Aufgabe bereits erledigt. Vor ihm stand eine andere Herausforderung: die Schaffung von ernst zu nehmenden landesweiten Parteien, föderalen Parteien, auf die man sich beim Aufbau von demokratischen Institutionen hätte stützen können.


Aber ich muss sagen, dass es keinen größeren Fehler gibt, als Parteien im Arbeitszimmer von Wladislaw Surkow zu gründen.

(W.S. war damals Vize-Präsidialamtschef und als "Regisseur" von Putins politischem Lager unter anderem zuständig für die Gründung und Steuerung von Parteien. Er gilt als einer der wichtigsten Architekten von Putins "gelenkter Demokratie".)


Parteien entstehen aus politischen Bewegungen, aus bestimmten Schichten, aus großen Gruppen. Und sie entstehen ohne Außeneinwirkung, auf der Basis von gemeinsamen Interessen.


Da haben wir es also: Wir hatten damals die Aufgabe, uns aus den Fesseln der KPdSU zu befreien. Heute ist die Aufgabe eine andere - die Entstehung von Parteien zu unterstützen.


Noch eine Frage in Bezug auf Parteien. Viele erinnern sich noch an die Zeit um 1990 und 1991, als in der Öffentlichkeit das Gefühl herrschte, man stünde vor einem Desaster, und alle zueinander sagten: Wenn wir nicht etwas dagegen tun, kommt es zu einer Katastrophe, zu einem Bürgerkrieg. Es hat den Anschein, als würde diese Katastrophenangst heute in Russland ebenfalls um sich greifen. Wenn schon der Bürgermeister von Moskau und der Leiter des Präsidialamts (Juri Luschkow und Dmitri Medwedew) sich erlauben, von einem Zerfall des Landes als realer Gefahr zu sprechen (...). Und wie groß ist das Interesse der Iswestija-Leser an den bunten Revolutionen?

(Bunte Revolutionen ist die Bezeichnung für die Revolutionen gegen autoritäre Regime in den Staaten der früheren UdSSR - die "Rosenrevolution" in Tiflis, die "Orangene Revolution" in Kiew und die "Tulpenrevolution" in Bischkek.)


Seite 253

Meiner Meinung nach wurde die Situation dadurch verschärft, wie die angedachten Reformen durchgeführt werden. 


Der Kampf gegen die Ansätze der Regierungsprojekte hat schon im Januar und Februar begonnen. Als Antwort auf das Monetisierungsgesetz sind die Rentner sofort auf die Straße gegangen. Und ganz allgemein ziehen sich die Auseinandersetzungen doch schon lange hin: Wie soll das Bildungswesen aussehen, das Gesundheitswesen, die Wohn- und Kommunalwirtschaft? Hier wird deutlich, das man den primitivsten aller möglichen Wege eingeschlagen hat - alles auf Kosten des Volkes. Ich denke, dass die Menschen dadurch aus dem Gleichgewicht und aus der Ruhe gebracht werden. Das Land ist aufgewacht, nachdem die Alten auf die Straße gegangen sind. Und heute versammeln sich jeden Tag irgendwo Menschen, um gegen diese oder jene Maßnahme zu protestieren. Und sie werden nicht mehr klein beigeben.


Zum Schluss kamen wir auf das Thema, das mit dem Näherrücken der neuen Präsidentschaftswahl in der Gesellschaft immer heftiger diskutiert wurde - eine mögliche dritte Amtszeit von Präsident Putin. (Die Verfassung verbietet es, dass ein Präsident nach zwei Amtszeiten ohne Unterbrechung noch einmal antritt, und damals wurde hefig spekuliert, Putin werde die Verfassung ändern oder brechen, um eine dritte Amtszeit anzutreten.)


Wenn Putin in seiner diesjährigen Botschaft sagt: Hier ist mein Programm für die nächsten zehn Jahre, setzt er damit nicht voraus, dass er doch für eine dritte Amtszeit im Kreml bleiben oder auf irgendeine andere Weise an der Macht bleiben will?


Ich bin nicht davon ausgegangen, dass er trotz allem ernsthaft darüber nachdenkt. Er sagt doch selbst, dass er nicht für eine dritte Amtszeit antreten wird. Andererseits könnte das Ganze vereinfacht werden. Es steht die Frage im Raum: Brauchen wir Verfassungsänderungen bei den Paragraphen, die die oberste Macht im Staat betreffen? Ich denke, ja. Obwohl Putin sagte, dass wir die Verfassung nicht anrühren sollten.


In welche Richtung sollten diese Verfassungsänderungen Ihrer Ansicht nach gehen?


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Meiner Ansicht nach brauchen wir eine französische Variante, angepasst an unsere Verhältnisse. Damit meine ich, dass die Partei, die die Wahlen gewonnen hat, eine Regierung bildet. Und gleichzeitig wird der Präsident vom Volk gewählt. Alle Kompetenzen sind klar abgegrenzt, und die Regierung kann arbeiten. Der Präsident kann, wie der französische Staatspräsident Jacques Chirac es getan hat, an den Kabinettssitzungen teilnehmen oder selbst Sitzungen der Regierung leiten - ganz, wie er es für notwendig hält. Aber dennoch funktioniert die Regierung, sie arbeitet unter der Führung des Ministerpräsidenten. Natürlich stimmt er sich dabei mit dem Staatspräisdenten ab. Wenn man dagegen letzteren zu einer Marionette machen will, die vom Parlament gewählt wird - nun, dann kann man das Parlament wie das Plenum des Zentralkomitees zusammenrufen, und man kann so vorgehen wie unter Chruschtschow.


Wieder und wieder bestätigte sich meine Überzeugung, dass letzten Endes alles von der Politik abhing, von der Frage der Demokratie. In jenen Jahren habe ich mich häufig mit Freunden, Mitstreitern und nicht selten auch mit Gegnern aus den Jahren der Perestroika und den darauf folgenden Jahern unterhalten - mit Alexander Jakowlew und dem Journalisten und Schriftsteller Jegor Jakowlew. Die beiden starben kurz nacheinander, 2005 und 2006. Sie waren unterschiedliche Menschen, mit komplizierten Charakteren und schwierigen Schicksalen. Sie haben viele Prüfungen durchgestanden, viele Illusionen gehegt und Enttäuschungen erlebt, aber sie haben den Glauben an einen demokratischen Weg für Russland bewahrt.


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Der Tod von Jegor Jakowlew, mit dem ich in den Jahren nach der Perestroika besonders eng verbunden war, war für mich ein schwerer Schlag. Unter Jakowlew war die Zeitung Moskowskije Nowosti zu einem echten Sprachrohr der Glasnost und der Perestroika geworden, das in vieler Hinsicht auch mich persönlich bei diesem sehr komplexen Unterfangen unterstützte. Natürlich gab es zwischen uns auch Streit und Meinungsverschiedenheiten. Ich erinnere mich an ein Gespräch, das wir kurz vor seinem Tod zu dritt führten - er, Alexander Jakowlew und ich. Der Tenor war: "Alte Kämpfer erinnern sich an längst vergangene Tage", und ich erinnerte die beiden daran, dass sie gefordert hatten, dass ich nach den Ereignissen im litauischen Vilnius am 13. Januar 1991 zurücktreten sollte. Der Druck, den die Moskowskije Nowosti damals ausübte, war schrecklich. Die beiden stritten das ab, aber ich konnte ihnen alles nachweisen. Jegor hatte vor seinem Wechsel zu dieser Zeitung bereits viel erlebt und bewegt - er hatte über Lenin geschrieben, verschiedene Medien geleitet, er wurde entlassen und hatte sich wieder nach oben gearbeitet - all das hat nicht nur seinen Charakter abgehärtet. Er war ein reifer und tiefgründiger Mensch, und deshalb waren seine Worte immer sehr gewichtig, präzise und treffend.


Wir waren uns in vielen Fragen einig, bis auf eine. Er verstand nicht, wie ich das, was in Russland vor sich ging, verteidigen konnte, dass ich Gründe fand, Putin zu unterstützen. "Mein Lieber", sagte ich zu ihm, "wenn du einmal in der Haut eines Präsidenten gesteckt hättest, dann würdest du verstehen, dass es hier nicht um Demokratie nach dem Lehrbuch geht, sondern darum, zu retten, zu handeln.


Im Jahr 2005 arbeitete ich intensiv an meinem Buch "Die Perestroika verstehen: Warum das jetzt wichtig ist". Gemeinsam mit meinen Weggefährten und Kollegen - Anatoli Tschernjajew, Alexander Weber, Georgi Ostroumow, Alexander Galkin und Boris Slawin - lasen wir uns erneut in die Dokumente aus den Jahren der Perestroika ein, gingen in unserer Erinnerung die Ereignisse durch und analysierten die Errungenschaften und Fehler. Als ich in diese Zeiten eintauchte und sie mit dem verglich, was danach geschah, verfestigte sich meine Überzeugung, dass die Perestroika, bevor alle ihre Ziele erreicht worden waren, abgebrochen wurde, aber dennoch gesiegt hat. Sie hat die Veränderungsprozesse bis an die Grenze vorangetrieben, hinter der es keine Rückkehr in die Vergangenheit mehr geben wird. Aber wir durften nicht auf der Stelle treten. Das Land musste voranschreiten, und zwar auf dem Weg der Demokratie. Dafür musste man kämpfen. Und obwohl meine Kräfte nicht mehr dieselben waren wie früher und sich Krankheiten bemerkbar machten, spürte ich, dass ich mich an diesem Kampf beteiligen musste.


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Voller Widersprüche - das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends


Die Resultate des Jahres 2005 waren widersprüchlich. Ich analysierte sie in meinem Artikel, der im Februar 2006 in dem Magzin Bolschaja Politika erschien:


Die Mehrzahl der Menschen lebt in Armut, sie können ihr Wissen und ihre Fähigkeiten nicht anwenden, und viele von ihen haben das Land verlassen. Lehrer, Ärzte, Wissenschaftler, Militärs, Kulturschaffende - sie leben in Armut. Unter Putin verbessert sich die Situation allmählich, aber laut Statistik haben wir noch nicht das Niveau von 1990 erreicht.


Wie soll es nun weitergehen? Dem Präsidenten bleiben noch zwei Jahre im Amt. Eigentlich könnte er in Versuchung geraten, nichts Ernsthaftes mehr zu unternehmen. Seine Beliebtheitswerte sind hoch, der Ölpreis ist gewaltig, das Lebensniveau der Menschen stabil. Aber trotz alledem hoffe ich, dass der Präsident einen anderen Weg wählen wird. Schon gewählt hat.


Im vergangen Jahr hat das Staatsoberhaupt vorgeschlagen, 4 nationale Projekte zur Priorität zu machen  

  1. das Bildungswesen,
  2. das Gesundheitswesen,
  3. bezahlbaren Wohnraum und
  4. die Landwirtschaft.


Im Grunde genommen ist das ein sozialdemokratisches Konzept. Der Präsident hat damit eine große Verantwortung auf sich genommen, weil ihn die Regierung im Bereich der Sozialpolitik offensichtlich nicht zufriedenstellt. Aber wen könnte sie auch zufriedenstellen? Die sozialen Reformen kommen nicht vom Fleck, und das zu einer Zeit, zu der wir dank der hohen Ölpreise mehr als genug Geld im Land haben. Doch die Regierug ignoriert arrogant die Kritik vonseiten der Gesellschaft.


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In diesem Artikel sprach ich auch ein Probem an, das mich ebenso wie die russische Gesellschaft mit Besorgnis erfüllte und dem die Regierung meiner Ansicht nach nicht genügend Aufmerksamkeit widmete:


Das vielleicht größte Elend in Russland ist die Korruption. Es heißt, sie sei eine unausweichliche Folge der Präsenz des Staates in der Wirtschaft. Entsprechend wird der Präsident dafür kritisiert, dass der Staat sich unter ihm wieder die Kontrolle über die Öl- und Gasbranche angeeignet hat. Ich bin damit nicht einverstanden. Was seine Schritte in diesem Bereich angeht, erkläre ich mich solidarisch mit dem Präsidenten. Aber man darf den Apparatschiks keine Freiheit lassen. Sie müssen der Gesellschaft dienen. Und ihre Zahl ist zu stark gestiegen. Wenn man diesen Prozess nicht stoppt, werden die Probleme mit der Korruption nur noch größer. Diese sind nur unter demokratischen Bedingungen lösbar.


Dpch jetzt, wo die nächste Wahl ansteht, tauchen im Land Gruppierungen auf, die ganz offensichtlich daran interessiert sind, Finanzströme zu beeinflussen und sie für ihre eigenen politischen Ziele zu nutzen. Dabei sollten aktive Politiker prinzipiell Distanz zur Wirtschaft halten. Punkt. Das gilt vor allem für den Präsidenten. Die Sache der Politiker ist die Politik. Wenn sie sich nicht daran halten, orientieren sie sich nicht an den Interessen des Landes, sondern daran, was ihnen  selber am meisten Profit einbringt.


Nach meinem Rücktritt wurden mir oft Posten in der Wirtschaft angeboten. Ich habe das immer abgelehnt. Ich hatte schon lange meine Wahl zugunsten der Politik getroffen.


Ich dachte viel über die bevorstehende Wahl nach. Einige meiner Erwägungen habe ich publiziert.


Es sind nur noch zwei Jahre bis zur nächsten Präsidentschaftswahl. Schon heute wird viel darüber gesprochen. Verschiedene Gruppierungen versuchen, ihre eigeenen Interessen abzusichern. Immer öfter sind Gespräche darüber zu hören, dass man eine "Operation Nachfolger" planen müsse. Oder, noch besser, ein Konzept entwerfen, das es dem amtierenden Präsidenten ermöglicht, eine dritte Amtszeit im Kreml zu bleiben. Diese Überlegunge sind sehr schädlich.


Seite 258

Wozu brauchen wir eine "Operation Nachfolger"? Diese würde doch nur darauf abzielen, ehrliche Wahlen zu verhindern. Damit würde der Wahlkampf erneut sabotiert. Das wäre ein Anschlag auf die Demokratie, auf die Bürgergesellschaft. Darum geht es bei der bevorstehenden Wahl.


Ich bin davon überzeugt, dass Putin die Verfassung nicht brechen wird und sein Amt innerhalb der Fristen, die das Grundgesetz unseres Landes vorschreibt, niederlegen wird. Er wird seine Zeit als Präsident würdig beenden. Ich schließe nicht aus, dass man ihn zu einer anderen Entscheidung drängen wird. Ich kann mir sogar vorstellen, mit welcher Begründung: "Wladimir Wladimirowitsch, das Volk bittet darum -." Aber ich glaube nicht, dass der Präsident dieser Versuchung erliegen wird. Jedenfalls habe ich keine Gründe dafür, ihn in dieser Hinsicht zu verdächtigen.


Heute sprechen alle noch von den Umstrukturierungen in der Regierung und im Präsidialamt, die es nach den Wahlen am 14. November 2005 gegeben hatte. Es wird gerätselt, wer von denen, die ihre Position behalten haben, den Platz von Wladimir Putin einnehmen könnte. Ich würde das nicht ernsthaft erörtern. Ich denke, der Präsident wird das Szenario, das einst sein Vorgänger gewählt hat, nicht wiederholen. Vorzeitig von seinem Amt zurückzutreten, den Ministerpräsidenten zum amtierenden Präsidenten zu ernennen, ihn dann für das hohe Amt zu empfehlen. ... 


Wie man sieht, habe ich mit einer meiner Prognosen recht behalten: Putin entschloss sich damals nicht zu einer dritten Amtszeit. Mit der anderen Voraussage hatte ich mich geirrt: Die Machthaber zogen wieder einmal eine "Operation Nachfolger" durch. Zugegeben, es lief etwas anders ab, aber das änderte nichts an den Tatsachen. Ich erkannte die Gefahr, dass unser Land schrittweise vom demokratischen Weg abweichen würde, und ich habe davor gewarnt.


Es besteht die ernste Gefahr, dass sich die Wahl in eine Fiktion verwandelt. Meiner Meinung nach gab es in unserem Land seit 1989, 1990 und 1991, als Boris Jelzin zum ersten Mal zum Präsidenten Russlands gewählt wurde, keine ehrliche Wahl mehr. Alle anderen Wahlkämpfe waren nicht echt: Die Kandidaten hatten nicht die gleichen, fairen Bedingungen, die "administrativen Ressourcen" wurden eingesetzt, die Ergebnisse wurden konkret gefälscht. Ich stütze mich bei dieser Ansicht nicht auf dritte Quellen, sondern habe das während des Wahlkampfs 1996 am eigenen Leib spüren müssen.


Seite 259

Können wir die Machthaber dazu zwingen, Wahlen entsprechend den demokratischen Regeln abzuhalten? Wir können es, und wir müssen es! Niemand wird uns das abnehmen. Wir müssen es lernen. Wahlen dürfen nicht von der Regierungspartei privatisiert werden.


Aber es gibt auch noch einen Punkt, der mich beunruhigt: Die Wahlen werden nur dann richtige Wahlen sein, wenn starke politische Konkurrenten daran teilnehmen. Ich bin überzeugt, dass die Leute auftauchen werden. Ja, sie sind bereits aufgetaucht. Aber ich werde keine Namen nennen, denn ich kenne die Sitten unserer sogenannten Elite zu gut: Die würden sie sofort verschlingen.


Die letzten beiden Absätze meines Artikels spiegelten eine widersprüchliche Situation wider, meine Hoffnungen und Zweifel: 


"Der russische Präsident Wladimir Putin hat mehrfach erklärt, dass er vorhabe, unser Land zu einer solchen Demokratie zu gestalten, dass ihr Nutzen die einfachen Menschen erreicht. Ich glaube nicht, dass er unaufrchtig war. Wenn er unser Land bis zum Ende seiner Amtszeit ernsthaft in diese Richtung voranbringt, werden die Wahlen 2008 so ablaufen, wie es sich in einem zivilisierten Land gehört. Aktive Wähler, ein fairer Wahlkampf mit echter politischer Konkurrenz, Ergebnisse, die nicht gefälscht sind.


Wenn dagegen die Worte nicht mehr als Worte bleiben und in der Realität die autoritären Tendenzen überwiegen, dann werden wir wieder Wahlen ohne Wahl erleben. Diese Gefahr muss man erkennen und alles tun, um sie zu vermeiden."


Seite 260

Der steinige Weg zur Demokratie

Die Jahre 2006 und 2007 waren recht erfolgreich, was die Geschwindigkeit des Wirtschaftswachstum anging. Doch die Qualität dieses Wachstums weckte große Zweifel, denn es beruhte vor allem darauf, dass Gelder aus dem Ölverkauf in die Wirtschaft flossen und auf dieser Grundlage der Import stieg. Es gab keine ernsthaften strukturellen Veränderungen in der Wirtschaft, sie konnte sich nicht von der "Ölnadel" befreien und neue, innovative Entwicklungswege einschlagen. Nichts von dem, was der Präsident Jahr für Jahr in seinen Botschaften an die Föderalversammlung forderte, wurde realisiert.


Ich hielt die Botschaften Putins für mehr als nur ein Ritual, ein gewohnheitsmäßiges Lippenbekenntnis, das man schnellstens wieder vergisst. Mit meiner Aussage, dass ich die Richtung der 2005er-Botschat teilte und die Aufgaben unterstütze, die der Präisdent darin formuliert hatte, wollte ich dazu veranlassen, die Mechanismen für deren Umsetzung entschieden in Angriff zu nehmen. In einem Interview mit Interfax sagte ich im Mai 2006: "Ich denke, der Präsident möchte sich nicht einfach so verabschieden - nach dem Motto, ich habe viel gesagt, und das war's. In den anderthalb Jahren, die noch bis zum Ende seiner Amtszeit verbleiben, hat er die Möglichkeit, die Realisierung all dessen einzuleiten, was er in seinen Botschaften vorgegeben hat.


Mich beunruhigten allerdings die wachsenden Anzeihen, dass unter den Machthabern der Einfluss derjenigen wuchs, die allergisch auf demokratische Methoden in der Staatslenkung reagierten. Diese Leute waren schockiert über die bunten Revolutionen, vor allem über die Orange Revolution in der Ukraine. Dabei beunruhigten sie weniger die Begleitumstände und Übertreibungen, von denen die stürmischen Prozesse in den Nachbarländern begleitet wurden - und diese gab es in der Tat -, als vielmehr die Möglichkeit, dass es dort durch Wahlen zu einem Machtwechsel kommen könnte. Der Begriff der "gelenkten Demokratie" kam auf, es entstanden künstliche, aus dem Staatshaushalt finanzierte Jugendorganisationen der Partei Einiges Russland wie die Unsrigen und die Junge Garde. Ich selbst habe einst im Komsomol, der Jugendorganisation der KPdSU, angefangen, konnte mir vorstellen, was "Jugendpolitik" zu Sowjetzeiten bedeutete, und stellte deshalb nun unwillkürlich Vergleiche an. Und wenn mir Einiges Russland wie eine schlechtere Variante der KPdSU vorkam, dann erschien mir diese Jugendorganisation nicht besser - wie Instrumente zur Manipulation und manchmal auch mit Einschüchterung.


Seite 261

In der "gelenkten Demokratie" gab es immer weniger Demokratie und immer mehr Lenkung, Kontrolle und Druck. Die russischen Machthaber hatten eindeutig kein Vertrauen mehr in die Menschen, sie wollten, dass die Wahlergebnisse vorhersagbar waren und zu ihren Gunsten ausfielen. In der Stiftung und mit Freunden und Kollegen, Politikern und Journalisten habe ich bei vielen Gesprächen über  das aktuelle Geschehen diskutiert. Es gab Gerüchte über ein "Anziehen der Daumenschrauben", den Tschekismus und andere ähnliche Andeutungen, aber auch konkrete Änderungen in der Gesetzgebung.


Die ganze erste Hälfte des Jahres 2006 stand die Auseinandersetzung mit diesen alarmierenden Entwicklungen für mich im Mittelpunkt. Sie mündete in einem Artikel, der am 19. Juli 2006 in der Rossijskaja Gaseta erschien. Mein Beitrag fiel sehr kritisch aus, und viele Leute waren überrascht, dass die offizielle Regierungszeitung mir dafür ihre Seiten zur Verfügung stellte. Ich denke, das zeigt, dass zahlreiche Menschen meine Sorgen teilen. In den Köpfen vieler -sowohl einfacher Bürger als auch solcher, die der Macht nahestanden - war die kritische Masse an Fragen und Zweifeln erreicht.


"Im Vorfeld des kürzlichen Treffens der G8 in Sankt Petersburg", schrieb ich, 


"haben die Diskussionen über Demokratie, die in Russland bereits im Gang waren, eine besondere Schärfe erreicht. Vieles, was westliche Politiker und Kommentatoren zu diesem Thema äußerten, stieß in unserer Gesellschaft auf Ablehnung. Die russische Bevölkerung denkt: Es geht um unser Land, unsere Demokratie, und wir müssen selbst entscheiden, wie sie aussehen soll, wie wir sie aufbauen, und nicht der Vizepräsident der USA. Es ist höchste Zeit, dass der Westen versteht: Jeder Druck auf Russland bringt nichts außer Schaden.


Seite 262

 Aber wenn wir den Druck von außen zurückweisen, sind wir umso mehr verpflichtet, den Zustand der demokratischen Prozesse in unserem Land sorgfältig zu analysieren und kritisch zu beurteilen. Die Voraussetzungen dafür, dass Russland die Ziele, die es anstrebt, erreichen kann, besteht für mich darin, dass es auf den Wegen der Demokratie voranschreitet. Gleichzeitig müssen wir bedenken, dass der Übergang vom Totalitarismus zur Demokratie nicht im luftleeren Raum erfolgt, nicht unter idealen Bedingungen, sondern im Kontext unserer Geschichte. Dieser Übergang hat sich als sehr schwierig erwiesen. Es wird viel Zeit in Anspruch nehmen und unserer Gesellschaft große Anstrengungen abfordern.


Besonders die fehlerhafte Politik der russischen Führung in den 1990er Jahren hat die Bedingungen unseres "Transfers zur Demokratie" erschwert. Die Armut eines Großteils er Bevölkerung, das Chaos in der Regierung, in der Wirtschaft, die Gefahr des Auseinanderbrechens unseres Landes - wie hätte sich auch unter solchen Bedingungen eine Demokratie entwickeln können? Im Grunde genommen gab es diese ja auch nicht, nur ihre Imitation und ihre Diskreditierung.


Angesichts dieses problemhaften Erbes musste sich Wladimir Putin vor allem darauf konzentrieren, einen Zerfall des Landes zu verhindern und die Wirtschaft sowie die Gesellschaft im Ganzen zu stabilisieren. Dabei galt es, rasch zu handeln. Und das war nicht möglich ohne Maßnahmen, die in den Standardlehrbüchern der Demokratie nicht vorgesehen sind. So war es etwa notwendig, die regionalen Machthaber dazu zu zwingen, die Gesetzgebung in den Regionen in Übereinstimmung mit den föderalen Gesetzten zu bringen. Es waren entschiedene Schritte im Kampf gegen den Terrorismus vorzunehmen..


Als Ergebnis dieser Maßnahmen konnte die Krise des Staates überwunden werden. Es kam zu einem Wirtschaftswachstum, dessen Früchte sich positiv auf das Leben der Menschen auswirkten. Das hat eine neue Situation geschaffen. Aber wahr ist auch etwas anderes: Stabilität in der Gesellschaft und eine gewisse Verbesserung der Wirtschaftsparameter allein lösen nicht die Fragen, die mit dem Zustand der Demokratie zusammenhängen. Im Gegenteil: Da die schwierigen und sogar außerordentlichen Umstände, mit denen wir zu Beginn des Jahrzehnts konfrontiert waren, überwunden sind, ist es höchste Zeit abzuklären, inwieweit unsere demokratischen Mechanismen und die vorgeschlagenen Gesetzeslösungen dem wichtigsten Ziel entsprechen - in Russland eine neue, freie, demokratische Gesellschaft aufzubauen.






Weiterführende Literatur


Gorbatschow:


Jeffrey Sachs, "What I did in Russia", March 14, 2012 (im Cache, Auszüge)

" ... In the spring of 1991, I worked on a Harvard-based project, led by Graham Allison of the Harvard Kennedy School of Government and Grigory Yavlinsky, to design a package of Soviet and U.S. actions to facilitate democratization and economic reform, backed by a large-scale infusion of Western financial and technical assistance.  The project took on the nickname of the “Grand Bargain” and a short book (Graham Allison, Window of Opportunity: The Grand Bargain for Democracy in the Soviet Union, Pantheon, 1991) was published by the team in the summer of 1991. My estimate, which became somewhat notorious at the time, was that the Soviet Union (and later the successor republics) would need an infusion of Western aid (envisioned as grants and highly concessional loans) of around $30 billion per year over five years, or $150 billion in total. That is still a number that I would endorse.  Alas, nothing like that ever materialized."


Russia’s economic realities and starting conditions in 1992

I fully understand from the start that the reform task would be vastly more difficult and complex than in Poland. There were several critical and quite obvious reasons for this concern:


Here is how I put it at the end of 1991 in an article for the Economist Magazine in December 1991, “Goodwill is Not Enough”:


Russia and the other republics bear the deep economic cancer of seven decades of communism: 


Now, on top of systemic disease, the republics face a financial crisis . . .  


The old administrative structures have collapsed . . . 

A deeper need for industrial retrenchment and restructuring will last for years, even decades, as the former Soviet Union scale back its old heavy industry…


Indeed, a constant theme[28] of mine was that the transformation was going to be so difficult and harrowing that the Soviet Union (and later Russia) would need vast Western aid for success.  Far from preaching a miracle cure, I was trying to preach realism to the United States – that market reforms could not, by themselves, solve deep structural and societal problems, and that large-scale help would be needed from the West.


Schon diese Auszüge aus dem Gutachten lassen das Ausmaß des Wirtschaftsunders ermessen, das Russland unter Putin geschafft hat. Das deutsche "Wirtschaftswunder" nach dem Ende des ZweitenWeltkriegs macht sich im Vergleich dazu unbedeutend aus, zumal Deutschland -anders als Russland- finanzielle Hilfe (Marshall-Plan) erhielt. 


Es hilft meiner Ansicht nach, Gorbatschows Kritik an der russischen Regierung und zuweilen an Putin selbst in diesem Licht zu sehen. 



Exzerpte sind noch unvollkommen, werden fortgesetzt

 

Version: 12.3.2018

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Joachim Gruber