Das neue Russland: Der Umbruch und das System Putin

von Michail Gorbatschow

Teil III - Beunruhigende Neue Welt
Das Neue Denken

Hšrbuch, Zeitintervall 4:55:30 - 5:00:55

(mehr in Michail Gorbatschow, Vadim Sagladin, Anatoli Tschernjajew, "Das Neue Denken", 1997)


Seiten 353 - 356

Das Neue Denken ist keine Serie von Dogmen, kein Kodex. Es hat sich entwickelt, mit neuem Inhalt gefŸllt, und spiegelt dabei den Lauf des Weltgeschehens wider. Aber seine Grundlage ist unverŠndert geblieben.


Die Anerkennung


Das Neue Denken war keine Ÿberraschende Erfindung, es entstand nicht von Null auf Hundert. Es hatte seine Vorgeschichte. Es gab VorgŠnger. Mehrmals habe ich in meinen VortrŠgen in den USA die Rede von PrŠsident John Kennedy in einer amerikanischen UniversitŠt im Juni 1963 zitiert. Er hatte damals dazu aufgerufen, Konflikte nicht fŸr unvermeidlich und Verhandlungslšsungen fŸr etwas Unmšgliches zu halten und die internationale Kommunikation nicht in einen Austausch von Drohungen zu verwandeln. Auf dem Hšhepunkt des Kalten Krieges war er in der Lage, sich aus dem Teufelskreis der DŠmonisierung des sog. Feindes und des Strebens nach Hegemonie in der Welt zu befreien. Die kŸnftige Welt, so sagte er, sei keine Pax Americana "Entweder wir gestalten eine Welt fŸr alle, oder es wird die Welt Ÿberhaupt nicht mehr geben."


Die VorgŠnger des Neuen Denkens waren herausragende Politiker, die Sozialdemokraten Olof Palme und Willy Brandt. Sie spŸrten und verstanden frŸher als andere die Herausforderungen der neuen Zeit. Darauf beruhte die Konzeption der gemeinsamen Sicherheit im Atomzeitalter, die Palme vorgeschlagen hatte, und die Idee, die Konfrontation zwischen Ost und West zu Ÿberwinden, eine allgemeine europŠische Zusammenarbeit zu grŸnden, ein gro§es Europa, das Brandt, Francois Mitterand und Helmut Kohl entwickelten.


Das Neue Denken nahm auch wichtige Prinzipien der internationalen Zusammenarbeit auf, die in den Jahren des Kalten Krieges im Rahmen der Organisation der Vereinten Nationen entwickelt wurden.


Sein humanistischer Inhalt war gleichlautend mit den Appellen und Forderungen der Friedensbewegung und den FŸhrern der Weltreligionen. Die Quintessenz lautet:


Das Neue Denken war und ist ein moderner Humanismus, dessen Sinn in der Entwicklung zu einer stabileren, sichereren, gerechteren und menschlicheren Gesellschaft besteht.


Die Anerkennung der wechselseitigen Bindungen und AbhŠngigkeiten in der Welt und der PrioritŠt der allgemeinen menschlichen Werte und Interessen drŸckte keinesfalls eine GeringschŠtzung der SouverŠnitŠt der Staaten und der staatlichen Interessen aus. Deren Stellenwert blieb ebenso unberŸhrt wie der der Interessen bestimmter Gesellschaftsschichten und Unternehmen und anderer Interessensgruppen. Doch diese Interessen sollten unter Bedingungen realisiert werden, unter denen die allgemeinen BedŸrfnisse der gesamten Menschheit im Vordergrund standen, vor allem das Gebot der Vermeidung eines Atomkriegs und der Rettung der Menschheit vor einer škologischen Katastrophe.


Um das zu erreichen, so glaubten wir, sind gemeinsame Anstrengungen aller LŠnder und Všlker unerlŠsslich. Daraus ergaben sich konkrete Aufgaben und konkrete Besonderheiten in der Au§enpolitik der Perestroika-Epoche.

Das war neu fŸr uns und es setzte die Notwendigkeit voraus, die Politik sowohl im €u§eren als auch im Inneren des Landes zu verŠndern.


Nicht zufŠllig habe ich meinen GesprŠchspartnern bei den Verahndlungen, den FŸhrern der westlichen Staaten gesagt:"VerŠndern mŸssen sich alle. Die moderne, miteinander verbundene Welt lŠsst niemandem eine andere Wahl."


Die folgenden Ereignisse haben gezeigt, dass nicht alle unsere Partner und bei Weitem nicht immer in †bereinstimmung mit den Prizipien des Neuen Denkens handelten. Und frŸher oder spŠter kam das Welt und auch sie selbst teuer zu stehen.


Sicherheit als Herausforderung

Seite 361 - 363

Der Abbau und die Vernichtung von Massenvernichtungswaffen wurde zur Geisel der allgemeinen AtmosphŠre in den internationalen Beziehungen. In den 1990er-Jahren entwickelten sich die Dinge dann statt einer allmŠhlichen Entspannung und eines wachsenden Vertrauens in die entgegengesetzte Richtung. Der Grund dafŸr war meiner Ansicht nach, dass der Westen und vor allem die USA die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Zerbrechen der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges falsch beurteilten.


Der Westen erklŠrte sich zum Sieger. Das hei§t, nicht gemeinsame BemŸhungen, nicht Verhandlungen, sondern eine Politik der StŠrke hatten aus seiner Sicht zum Ende des Kalten Kriegs gefŸhrt. Daraus ergab sich die Schlussfolgerung: Man musste noch stŠrker werden und die militŠrische †berlegenheit ausbauen. So wurde die gemeinsame Verpflichtung vergessen, die in der ErklŠrung der Staatschefs der USA und der UdSSR im MŠrz 1985 in Genf fixiert worden war:

Und nun musste die Welt zusehen, wie das Vertrauenskapital, das in den 1980er-Jahren angesammelt worden war, verspielt wurde, wie statt einer neuen, sichereren Weltordnung das Gespenst eines neuen Chaos auftauchte, in dem das recht des StŠrkeren herrschte.

machten deutlich, wie die USA die Sicherheitsprobleme lšsen wollten. Die Stimmen Russlands, Chinas und sogar einiger VerbŸndeter der USA wurden nicht gehšrt. Die Politik einseitiger Aktionen, die Ÿbrigens noch vor dem Einzug von George W. Bush in Wei§e Haus begonnen hatte, wurde zu einem stŠndigen negativen Faktor in der Weltpolitik. Auf unserem Planeten setzte sich wieder das Recht des StŠrkeren durch. Und andere LŠnder zogen daraus ihre Konsequenzen.


Ende der 1990er-Jahre arbeiteten Indien und Pakistan an der Entwicklung von Atomwaffen. Den gleichen Weg schlug Nordkorea ein. BeŸglich des iranischen Atomprogramms tauchten Fragen auf - ob es wirklich, wie die iranische FŸhrung beteuerte, ausschlie§lich zivilen Charakter hatte. Und es gibt Duzende SchwellenlŠnder, die in der Lage sind, Atomwaffen zu bauen. Das Beispiel SŸdafrikas, das nach der Abschaffung der Apartheit auf Atomwaffen verzichtet und sie vernichtet hat, fand bisher keine Nachahmer. Die Gefahr, dass Atomwaffen in einem neuen RŸstungswettlauf verbreitet werden, wurde zur RealitŠt.


In der Weltpolitik geriet das Ziel, die Atomwaffen zu vernichten, de facto in Vergessenheit. Im Gegenteil: In den MilitŠrdoktrinen der AtommŠchte wurden Nuklearwaffen wieder als akzeptables Mittel der KriegsfŸhrung betrachtet, es war die Rede von ErstschlŠgen und sogar von PrŠventivschlŠgen. Zuerst geschah das in der amerikanischen MilitŠrdoktrin; danach folgten auch andere diesem Beispiel.


Festzuhalten bleibt, dass die Chancen, die sich nach dem Ende des Kalten Kriegs eršffnet hatten, nicht genutzt oder, um es deutlich zu sagen, in den Wind geschlagen wurden.


Meine Vision: eine atomwaffenfreie Welt.

Seite 363

Ich war und bin davon Ÿberzeugt, dass man die Welt nur dann von allen Gefahren befreien kann, die von Atomwaffen ausgehen, wenn man všllig auf diese verzichtet. Letzten Endes gibt es keinen anderen Weg.


Am 4. Januar 2007 erschien im Wall Street Journal ein Artikel mit der †berschrift "Eine Welt frei von Atomwaffen". Die Unterzeichner waren Republikaner und Demokraten, bekannte US-Politiker aus den beiden fŸhrenden Parteien: George Shultz, Henry Kissinger, William Perry und Sam Nunn - alles politische Schwergewichte, MŠnner, die nicht zu utopischen Projekten neigten und in den vorangegangenen Regierungen einzigartige Erfahrungen in der Gestaltung der Politik gesammelt hatten. Dass sich solche Persšnlichkeiten dazu entschlossen, zu einer derart wichtigen Frage der Weltpolitik wie dem Verzicht auf Atomwaffen ihre Stimme zu erheben, bezeugte einen Wandel in der Stimmung des amerikanischen Establishments. Es war ein richtungsweisendes Ereignis.


Die Folgen der NATO-Erweiterung

Seiten 371 - 373

Zu dieser Zeit hielt ich mich šfters in den USA auf und sprach mit verschiedenen fŸhrenden Politikern - Vertretern beider Parteien, GeschŠftsleuten, Intellektuellen und einfachen Amerikanern. Ich traf nicht viele BefŸrworter einer NATO-Osterweiterung. Aber es gab natŸrlich Leute, die bereit waren, dem zuzustimmen, wenn auch ohne besondere Begeisterung. Die Mehrheit jedoch hatte eindeutig Zweifel am Sinn eines solchen Schrittes, und es gabe auch nicht wenige Ÿberzeugte Gegner der Erweiterung. Aber ihre Meinung zŠhlte nicht.


In Russland wurden die PlŠne fŸr die NATO-Erweiterung zu einem sehr akuten innenpolitischen Problem. Die AnhŠnger eines Konfrontationskurses mit dem Westen und diejenigen, die sich der "Gefahr von Au§en" im eigenen Interesse bedienen wollten, machten sich das sofort zu nutze.


Akitv wurden auch diejenigen, die es sich zu ihrem Hobby gemacht hatten, alles auf Gorbatschow zu schieben. Schlie§lich gab es einfach schlecht informierte Menschen, die glaubten, dass ich keine Schritte unternommen hŠtte, die eine Erweiterung der NATAO ausschlossen. Sie waren der Meinung, dass man im Rahmen der Wiederverinigung Deutschlands einen Preis und letztlich sogar einen verbindlichen Verzicht auf eine Erweiterung der NATO fŸr die Zukunft hŠtte einfordern mŸssen.


Diese Anschuldigungen sind natŸrlich haltlos. Die deutsche Wiedervereinigung wurde vollendet, als der Warschauer Vertrag noch bestand, und die Forderung, dass seine Mitglieder nicht in die NATO eintreten durften, wŠre všllig absurd gewesen. Zudem kann keine Organisation juristische Garantien dafŸr geben, dass sie sich nicht erweitert. Es handelt sich um eine rein politische Frage.


TatsŠchlich wurde alles getan, was man unter den damaligen Bedingungen politisch unternehmen konnte. In dem Vertrag Ÿber die endgŸltige Regelung mit Deutschland wurde vereinbart, dass auf dem Territorium der frŸheren DDR keine zusŠtzlichen NATO-StreitkrŠfte und ebenfalls keine Massenvernichtungswaffen stationiert werden durften. Auf diese Weise wurde die militŠrische Infrastruktur der NATO nicht in Richtung Osten verlagert.


Ohne Zweifel widersprach die Entscheidung, die NATO zu erweitern, die nach dem Zerfall der Sowjetunion getroffen wurde, dem Geist dieser Vereinbarung. Das habe ich mehrfach erklŠrt, als ich die grundlosen Beschuldigungen an meine Adresse zurŸckwies. Am folgenreichsten war jedoch, dass die Politik der NATO-FŸhrung eine reale Gefahr in sich barg, und zwar nicht nur fŸr Russland. Das ging so weit, dass die Welt ein halbes Jahrhundert nach dem Beginn des Kalten Krieges wieder in einen Šhnlichen Konflikt verwickelt werden konnte.


Die Erweiterung der NATO erschŸtterte die Grundlagen der europŠischen Ordnung, die mit der Schlussakte von Helsinki 1975 festgelegt worden waren. Es war eine Wende um 180 Grad, weg von der Strategie, die die europŠischen Staaten zur Beendigung des Kalten Krieges gemeinsam ausgearbeitet hatten. Ins Wanken gerieten auch die SŠulen des Vertrags Ÿber einen Abbau der konventionellen RŸstung und StreitkrŠfte auf dem europŠischen Territorium. In Europa wurde eine neue Grenzlinie gezogen. Die NATO eignete sich die Funktion einer europŠischen Polizei an, ja, sogar einer Weltpolizei. Angefangen hatte das bereits in der ersten HŠlfte der 1990er-Jahre, als sich die NATO in den Konflikt im zerfallenden Jugoslawien einmischte.


Der heftigste und blutigste war der Konflikt in Bosnien und Herzegowina. Auch hier trugen die westlichen LŠnder zur VerschŠrfung der Situation bei, anstatt in jeder erdenklichen Weise die BemŸhungen der Vermittler - des frŸheren US-Au§enministers Cyrus Vance und Lord Owen - zu unterstŸtzen. Erstmals in ihrer Geschichte begann die NATO eine direkte militŠrische Intervention, und zwar mit einer einseitigen Tendenz - gegen die bosnischen Serben. 1995 war Serbien gezwungen, die Bedingungen der NATO anzunehmen und sich auf den von den Amerikanern aufgezwungenen Frieden von Dayton einzulassen. ... Letztendlich, nach der Einmischung der NATO und der Bombardierung von Belgrad, war Jugoslawien gezwungen nachzugeben. ... Es war ein gefŠhrlicher PrŠzedenzfall geschaffen worden - militŠrische Handlungen gegen ein souverŠnes Land ohne einen Entschluss des Sicherheitsrats der UNO. Das war eine Verletzung der UNO-Charta und des Všlkerrechts.


Das neue Russland: Der Umbruch und das System Putin

Michail Gorbatschow


Version: 13.1.2023

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