„Nötig wäre eine sozialökologische Transformation“

Interview mit Michael Müller: Wieviel Macht hat er gegen die Atomlobby?

Gorleben-Rundschau März/April 2015


Michael Müller ist einer der beiden Vorsitzenden der im April 2014 eingesetzten so genannten Endlager-Kommission in Berlin. Er war ab 1983 über ein Vierteljahrhundert Bundestagsabgeordneter der SPD und von 1992 bis 1994 Vorsitzender der Enquete-Kommission zum Schutz des Menschen und der Umwelt. 2005 wurde er für rund vier Jahre Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesumweltministerium. Müller ist zudem Mit-Herausgeber des unabhängigen Onlinemagazins klimaretter.info. Bereits 1989 veröffentlichte er sein Buch „Das Ende des blauen Planeten? – Der Klimakollaps, Gefahren und Auswege“. Michael Müller ist Vorsitzender des Umweltverbandes Naturfreunde Deutschland und seit langem bekennender Atomkraftgegner. Für die Gorleben Rundschau sprach er mit Martin Donat.


Gorleben Rundschau: Michael, die Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe, zu deren gleichberechtigtem Vorsitzenden du neben Frau Heinen-Esser berufen wurdest, ist aufgrund der Verständigung von vier damaligen Bundestagsparteien und der Verständigung von Bund und Ländern über einen so genannten „Neuanfang“ in der Endlagersuche zustande gekommen. Basis dieser Kompromisse waren unter anderem die Einigung auf eine vergleichende Suche, die Einrichtung eben dieser Kommission und der Verzicht auf weitere Castortransporte nach Gorleben. Das Letztere wurde zugunsten größerer Glaubwürdigkeit sogar zusätzlich im Atomgesetz verankert. Der Wirtschaft wurden zwei von sechzehn Plätzen gesellschaftlicher Vertreter angeboten, die sie aber ausschließlich mit Vertretern der Energiekonzerne, also den Abfallverursachern, besetzt haben. Diese klagen nun aus wirtschaftlichem Eigennutz gegen die Neuregelungen im Atomgesetz und damit gegen die Vertragsbasis der Kommission, in der sie gemeinnützig nach Lösungen suchen sollen. Ihre Sitze und ihren Einfluss in der Kommission wollen sie aber gleichzeitig nicht preisgeben, sie treiben also quasi doppeltes Spiel. Der Kommission war das im November gerade einmal zwanzig Minuten Debatte wert. War das jetzt alles?

Michael Müller: Ich will jedenfalls einen Neuanfang, und das will auch eine eindeutige Mehrheit der Kommission, denn der bisherige Weg war falsch, das Ergebnis von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen, die das, was notwendig ist, nämlich ein echtes Auswahlverfahren, nicht wollten. Zudem ist die Ausgangssituation anders geworden: Bundestag und Bundesrat haben mit großer Mehrheit den Ausstieg aus der Atomkraft beschlossen, dafür gibt es heute einen breiten politischen Konsens. Wie die Anti-Atom-Bewegung, hat auch mein Verband, die Naturfreunde Deutschlands, die seit 1957 gegen die Nutzung der Atomenergie sind, einen schnelleren Ausstieg gefordert. Dafür gibt es gute Gründe, und es hätte auch unterschiedliche Wege dafür gegeben, wozu auch beispielsweise der fehlende Entsorgungsnachweis gehört. Dennoch müsst auch ihr sehen: Die Anti-Atom-Bewegung hat sich in der zentralen Frage durchgesetzt, und das ist auch international ein wichtiges Signal: dem Ausstieg aus der Atomkraft. Jetzt brauchen wir euch als kritische Beobachter und wichtige Ratgeber, um das letzte Kapitel der unseligen Geschichte der Atomenergie zu schreiben, die möglichst sichere Verwahrung des Atommülls. Und – was auch dazu gehört – um zu einer wirklichen Energiewende zu kommen, von der wir noch weit entfernt sind und die weit mehr erfordert, als Erneuerbare Energien zu fördern.


Ich sehe sehr kritisch, was die Atomkraftbetreiber in unterschiedlichen Rollen und mit unterschiedlichen Klagen machen. Ein Neuanfang ist das nicht. Und es gibt auch negative Erfahrungen, denn auch nach dem „Konsens“ zwischen Bundesregierung und E.on, RWE, EnBW und Vattenfall im Jahr 2000 haben die vier Betreiber, vor allem RWE-Chef Grossmann, das Ausstiegsgesetz, das sie selbst mit ausgehandelt haben, nicht ernst genommen. Sie haben damals auf schwarz-gelb gehofft, um die Laufzeiten zu verlängern, was dann ja auch geschehen ist, bis es zu der Tragödie von Fukushima kam. Deshalb gibt es nicht von ungefähr großes Misstrauen. 


Von daher: Ein Neuanfang heißt auch, Klagen zu beenden. Falsch ist allerdings die Behauptung, die Kommission hätte sich nur einmal und dann nur zwanzig Minuten mit den Klagen von E.on beschäftigt. Wir haben in drei Sitzungen darüber geredet, zeitlich begrenzt am Anfang, um die Anhörungen nicht zu sehr nach hinten zu schieben, und danach in offenen Debatten. 


GR: Wo gehen die nächsten Castortransporte hin? Müssen wir uns im Wendland schon wieder warm anziehen, oder ist das gar kein Thema in der Kommission?


MM: Durch die Klage von E.on gegen die Beendigung der Nutzung von Gorleben müssen wir uns damit beschäftigen. Wenn Bundesrat und Bundestag festlegen, dass bei der Suche von einer „weißen Landkarte“ auszugehen ist, dann muss das die Grundlage der Arbeit sein. Auch hier gilt das eben gesagte: Wir brauchen einen Neuanfang. Dazu gehört auch die wichtige Frage, wohin die 26 Castoren aus Frankreich und England gehen, auch deshalb beschäftigen wir uns in der nächsten Sitzung mit der Situation der Zwischenlager. Was ist nach dem Urteil zu Brunsbüttel in Schleswig-Holstein, was ist mit Baden-Württemberg, was ist mit Hessen und Bayern?


GR: Schon bei der Einrichtung des Arbeitskreises Auswahlverfahren Endlagerstandorte (AK End) vor sechzehn Jahren war man davon überzeugt, dass die Abfallverursacher stets mit am Tisch sitzen müssten, um Ergebnisse am Ende auch mitzutragen. Die Umsetzung des AK End ist ja bekanntlich dann an der Politik gescheitert, konkret übrigens an der Regierung Merkel. Während der damalige Abschlussbericht im Jahr 2002 einhellig mit den Konzernen noch ein vergleichendes, kriteriengestütztes, wissenschaftsbasiertes Auswahlverfahren mit einer vorherigen öffentlichen Grundsatzdebatte empfahl, klagen die Betreiber nun gegen genau diese Grundlagen. Wer wird am Ende die Fahrt bestimmen? Die Kommission, die Parlamente oder aber die Gerichte?


MM: Der Auftrag der Kommission ist gesetzlich festgelegt: Sie kann nur die Kriterien für das Auswahlverfahren vorschlagen, was natürlich über die Frage möglicher Standorte hinausgeht. Wir – Frau Heinen-Esser und ich – werben um Vertrauen für einen Neuanfang, der natürlich die Arbeit des AK End einbezieht, aber auch darüber hinausgehen muss. In der Kommission wurde herausgearbeitet, dass es neue Aspekte gibt, die wir zu berücksichtigen haben. Unter anderem macht die Kommission dazu eine Anhörung zu den Fragen Rückholbarkeit/Bergbarkeit, die im AK End-Bericht angesprochen, aber nicht ausführlich behandelt wurden. Entscheiden muss letztlich die Politik, hoffentlich auf der Basis der Kommissionsvorschläge. Das Umweltministerium muss einen Gesetzentwurf machen, über denn dann Bundestag und Bundesrat beraten und beschließen werden.


GR: Abgesehen davon, dass die Entsorgungsrückstellungen der Atomindustrie auch nach Jahrzehnten der Milliardengewinne womöglich ohnehin nur Bilanzposten darstellen, zeichnet sich inzwischen deutlich ab, dass man sich seinerzeit wohl reichlich verkalkuliert hat. Nicht nur der Rückbau von Atomkraftwerken, sondern natürlich auch eine auf Sicherheit bedachte sorgfältige Suche nach dem langfristigen Verbleib des Atommülls werden voraussichtlich weitaus mehr kosten, als einst veranschlagt. Wird am Ende überhaupt noch das Geld für die relativ beste Lösung da sein, oder steigt gerade wieder der Druck auf den „erstbesten Standort“?


MM: Auch die Finanzierung der sicheren Verwahrung radioaktiver Abfälle ist eine Frage, ob die Beteiligten zu einem Neuanfang fähig sind. Es muss, so steht es auch in dem Entwurf für unsere Leitlinien, das Verursacherprinzip gelten. Die vier Betreiber haben in der Bilanz rund 37 Milliarden Rückstellungen, für die sie auch steuerliche Vorteile hatten. Zusammen mit Hermann Scheer habe ich deshalb schon vor Jahren eine Initiative im Bundestag gestartet, dieses Geld in einen öffentlichen Fonds zu geben. Leider erfolglos. 


Zudem zeigen viele Berechnungen, dass diese Summe wahrscheinlich nicht ausreicht. Das zeigen die Erfahrungen aus dem Abbruch der Atommeiler, auch die Schweiz geht von wesentlich höheren Berechnungen aus. Frau Heinen-Esser und ich haben darauf hingewiesen, dass auch konservative Berechnungen auf Beträge zwischen 45 und 48 Milliarden Euro kommen. Von daher darf es bei einem Neuanfang natürlich nicht um die „billigste“ Lösung gehen, sondern um eine, die zu verantworten ist. Sicherheit zuerst. Deshalb muss schnell Klarheit geschaffen werden.


GR: Siehst du es als realistisch an, dass Parteien, Regierungen und Parlamente bereit sein werden, in Jahren und Jahrzehnten noch Milliarden in die nukleare Sicherheit zu investieren, wenn sie diese Gelder aus den laufenden Haushalten, also aus Infrastrukturmaßnahmen, Bildung, Sozialausgaben und Forschung, abzweigen müssen? Zumal, da „Sanierungen“, wie in Morsleben und der ASSE, ohnehin vom Steuerzahler bezahlt werden und nicht über die „Endlagervorausleistungsverordnung“ gedeckt sind. Müssen nicht unverzüglich zusätzliche Risikozuschläge von den Konzernen erhoben und die Rückstellungen in einem öffentlich-rechtlichen Fonds für den Steuerzahler gesichert werden?


MM: Ich sagte, dass die Politik schnell Klarheit über die Finanzierung der atomaren Lasten schaffen muss. Das gilt auch generell darüber hinaus für komplexe technologische Fragen mit langen Fernwirkungen. Die sichere Verwahrung des Atommülls ist ein eindringliches Beispiel dafür, dass der alte Weg einer Bewältigung technischer Probleme durch immer neue technische Lösungen nicht mehr gangbar ist – weit über die Atomkraft hinaus. Wir müssen ein hohes Lehrgeld bezahlen, dass dies nicht erkannt wurde. Und es ist nicht einmal klar, ob wir daraus lernen. Es geht um den Unterschied zwischen einfacher und reflexiver Modernisierung. Wir brauchen eine institutionelle Technologiefolgenabschätzung, die ein wirksames Veto einlegen kann, wenn die Folgen für das Gemeinwohl schädlich sind. Vielleicht ist es ein Weg, zu einem Nachhaltigkeitsausschuss in Bundestag und Bundesrat zu kommen, der einen Verfassungsrang hat. Er muss die langfristigen Folgen prüfen und öffentlich machen.


GR: Wir haben uns aus vielen guten Gründen mit der überwältigenden Mehrheit der Umweltverbände und Initiativen gegen die Teilnahme an der Kommission entschieden und unter anderem auch wegen der Klagen der Konzerne eine zehnminütige Anhörung im November abgesagt. Wir haben uns insofern gegenüber der Politik eindeutig verhalten. Die Atomkonzerne dagegen spielen offensichtlich ein doppeltes Spiel nach dem Motto „mitnehmen, was es mitzunehmen gibt“. Die Kommission genießt in der Folge nicht nur ziemlich wenig Vertrauen in der Öffentlichkeit, schlimmer noch, sie wird offenbar noch nicht einmal wahrgenommen. Du hast dich immer als Atomkraftgegner bekannt und dich auch noch jüngst gegen ein Endlager in Gorleben ausgesprochen. Fügst du dich im politischen Alltag langsam den „Realitäten“? Welche Chancen siehst du noch für ein offenes Verfahren unter Einbeziehung der Betroffenen?


MM: Du stellst Behauptungen auf, die ich hinterfrage. Welche überwältigende Mehrheit der Umweltverbände meinst du? Ich war Mitglied im Dachverband der Umwelt- und Naturschutzverbände, dem DNR, dem immerhin, wenn ich die Doppelmitgliedschaften abziehe, rund 5,4 Millionen Mitglieder angehören. Die große Mehrheit war in dieser Frage nicht engagiert, aber von Ablehnung einer Mitarbeit habe ich wenig gesehen. Hier liegt ja ein Problem, das mir sehr zu schaffen macht. Die ökologischen Verbände müssten eigentlich der Motor für eine sozialökologische Transformation sein. Das sind sie aber nicht. Unsere Gesellschaft ist entpolitisiert und zerfällt in „Special-Interest-Öffentlichkeiten“. Was wir aber brauchen, ist eine Antwort auf die Frage, wie humaner und nachhaltiger Fortschritt möglich wird. Nicht zuletzt die Frage des Atommülls macht deutlich, wie leichtfertig die Atomeuphorie Ende der Fünfzigerjahre war, als Weichen gestellt wurden, ohne die Konsequenzen zu beachten.


Insofern geht auch der Begriff „Krise“ zu kurz. Was wir heute erleben ist ein epochaler Einschnitt, der sich an der Auseinandersetzung um Wachstum zeigt. Die Postwachstumsbewegung ist ein Ausdruck dafür, dass es – wie es bei Erich Kästner heißt – auf keinen Fall so weiter geht, wenn es so weiter geht. Natürlich spitzt sich in dieser Umbruchsituation auch die Auseinandersetzung zwischen altem und neuem Denken zu, zwischen Macht, Interessen und Gemeinwohl. Umso mehr halte ich es für falsch, dass die Anti-Atom-Bewegung nicht selbstbewusst in die Kommission geht und öffentlich macht, wie eine sozialökologische Transformation aussehen muss. Sie hat eine hohe Glaubwürdigkeit, die sie für diese Aufgabe nutzen muss. Wer sonst? Ich hätte es gut gefunden, wenn beispielsweise du, Martin, in der Kommission mitmachen würdest. Meines Erachtens ist das die angemessene Form in der Demokratie für eine Strategie des politischen Konflikts.


GR: Welche Chancen hat für dich die Kernforderung der Verbände und Initiativen nach einem beschleunigten Atomausstieg deutlich vor 2022?


MM: Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass ich für einen schnelleren Ausstiegspfad war, der übrigens auch in Einklang mit mehr Klimaschutz stand. Leider habe ich zu wenig Unterstützung gehabt. Ob es zu einem Ende vor dem gesetzlich festgelegten Ausstieg kommt, ist eine Frage, die vom betriebswirtschaftlichen Kalkül der Betreiberfirmen und der atomrechtlichen Aufsicht abhängig ist. 


GR: Lieber Michael Müller, vielen Dank für das Gespräch.


Ein Kommentar von J. Gruber dazu findet sich hier.



Cache des Interviews

acamedia home

Joachim Gruber