DER MARSCH AUF BERLIN

9. November 1923

(amerikanisches Original: http://www.acamedia.info/literature/princess/35.htm)



Seit dem Morgengrauen regnete es in Stršmen, so dass ich (mein Name ist Peter Ellis) Meier (den Hausmeister von Christoph Keiths Grundewald-Villa, in der ich wohnte) bat, mir ein Taxi zu rufen. Als wir in die Koenigsallee einbogen, begannen die Finanzverhandlungen, denn der Fahrer bemerkte, dass ich keine pralle Aktentasche bei mir trug.


(Zu Beginn des Weltkriegs hatte ich in meinem ersten Studienjahr meine -amerikanische- UniversitŠt verlassen, um mich im Krieg nŸtzlich zu machen. Als Fahrer eines Krankenwagens hatte ich den deutschen Piloten Christoph Keith aus seinem abgestŸrzten Doppeldecker gerettet. Nach dem Krieg hatte ich in Paris Malerei studiert und ihn zufŠllig wieder getroffen. Er war im Auftrag seines Arbeitgebers, der Berliner Privatbank Waldstein & Co, in Paris. Christoph hatte mich damals Ÿberredet, mit ihm nach Berlin zu kommen, um dort die Malerei weiter zu studieren.)


"Gendarmenmarkt, mein Herr? Der regulŠre Fahrpreis - ich meine den Fahrpreis auf dem alten Taxameter - wŸrde etwa eine Mark betragen .... "Der Kurs war gestern Abend 2.000.000.000.000 Mark pro Dollar gewesen. Als wir an der Ecke vorbeikamen, an der Walther Rathenau ermordet worden war - vor sechzehn Monaten? es kam mir wie eine Ewigkeit vor - kamen wir Ÿberein, dass, da ich keine vier der neuen 1oo.ooo.ooo.ooo-Mark-Scheine hatte, ein amerikanischer Vierteldollar fŸr den Fahrpreis und das Trinkgeld reichen wŸrde.


Ich war zu einem Treffen mit Dr. Stra§burger (GeschŠftsfŸhrer von Waldstein & Co) gerufen worden, um meine Investitionen zu besprechen (ich hatte meine wenigen in Paris noch Ÿbrigen amerikanischen Dollars und zusŠtzliches von der Privatbank Waldstein & Co geliehen Geld auf Stra§burgers Rat hin in Aktien investiert, als ich nach Berlin kam). Ich hatte mir keine gro§en Gedanken darŸber gemacht. Meine deutschen Aktien stiegen. Gelegentlich verkaufte ich welche, um die paar Dollar aufzubringen, die ich zum Leben brauchte; gelegentlich kaufte ich mehr, indem ich meine Schulden bei Waldstein & Co. erhšhte. Ich fŸhlte mich in guten HŠnden - doch plštzlich, gestern, kam eine Nachricht Ÿber Christoph an Meier: Herr Geheimrat (Stra§burger) wŸnschte meine Anwesenheit um zehn Uhr.


Der KurfŸrstendamm war voll mit Autos, mit Fu§gŠngern, die glitzernde Regenschirme trugen. Trotz des Regens versuchen einige Handwerker mit einer Leiter und langen Pinseln, ein Plakat an einer LitfasssŠule anzubringen. (Ich wei§ nicht, wie wir diese Dinger nennen, weil wir sie nicht haben. Es sind dicke runde SŠulen, vielleicht fŸnfzehn Fu§ hoch, die auf den BŸrgersteigen aufgestellt und mit kommerzieller Werbung und offiziellen AnkŸndigungen vollgepflastert sind.) Das Schild, das auf dieser SŠule prangte, schien eine Zeitungsschlagzeile zu sein, stark vergrš§ert, schwarze gotische Buchstaben auf wei§em Papier:


HITLER PUTSCH IN M†NCHEN!


"Was hat das alles zu bedeuten?" fragte ich den Fahrer, der mit den Schultern zuckte.


"Die wissen gar nichts. Die Nazis haben die Telefon- und Telegrafenleitungen gekappt, und alles, was sie wissen, ist das, was die Leute sagen, die mit dem Nachtzug gekommen sind, und die wissen nichts, au§er dass es einen Aufstand in einer Bierhalle gab. Diese verdammten Bayern, die machen alles in ihren Bierhallen."


Das war das erste Mal, dass ich das Wort "Nazi" gehšrt hatte.


Als wir in das Finanzviertel der Innenstadt einfuhren, hielt ein Polizist das Taxi an, um eine Reihe von Lastwagen aus einem Innenhof in die JŠgerstra§e fahren zu lassen.


"Sehen Sie sich die an", rief der Fahrer. "Lastwagen voller Geld. Lastwagen voller Geldscheine mit neun Nullen hinter der Zahl! Letzten FrŸhling haben sie das Geld in Kšrben herausgetragen, sie hatten Hunderte von TrŠgern von jeder Bank und jedem GeschŠft, die sich dort mit gro§en Weidenkšrben auf dem RŸcken drŠngten, um das Geld wegzuschleppen - aber jetzt schicken sie Lastwagen! Ein Lastwagen pro Tag, um ihre Leute zu bezahlen, und wenn die Leute heute Abend in den Laden kommen, reicht das Geld nicht einmal mehr fŸr ihr Abendessen!"


Der letzte Lastwagen kam aus dem Hof, der Polizist winkte uns durch und einen Moment spŠter hielten wir wieder an, am Gendarmenmarkt Nr. 4.


"Fragen Sie den Baron von Waldstein, wie das ausgehen wird", sagte der Fahrer, als ich ihm sein Geld gab.


"Das werde ich tun", sagte ich.


"Weil es ein Ende haben muss, wissen Sie. Es muss irgendwie enden."


Ich knallte die TŸr zu und das Taxi fuhr im Regen davon.


Die Lobby von Waldstein & Co. war voller Menschen. Es waren gut gekleidete Leute. Es waren wichtige Leute. Das sagten sie auch. Sie hatten alle einen Termin, mit einem der Barone (den Teilhabern von Waldstein & Co) oder mit Dr. Stra§burger oder mit einem der anderen Partner.


Der Butler hatte etwas von seiner eisigen Gelassenheit verloren. "Jawohl, Herr Kommerzienrat, der Herr Geheimrat wei§, dass Sie warten, er wird Sie gleich sehen, wenn er frei ist.... Jawohl, Exzellenz, der SekretŠr des Herrn Barons hat Ihre Nachricht in die Sitzung getragen, wenn Sie so freundlich wŠren, mir zu folgen -"


Die zweitŸrigen BeratungsrŠume fŸllten sich, als Christoph erschien.


"Es tut mir leid, alter Mann, Dr. Stra§burger lŠsst sich entschuldigen, er kann leider nicht..."


"Das ist schon in Ordnung, ich verstehe -"


"Er hat mich gebeten, Dich zu empfangen."


Christoph hatte jetzt sein eigenes BŸro, ein kleines wei§es Zimmer mit einem Rolltop-Schreibtisch an der Wand, einem Telefon, zwei StŸhlen, einem Fenster, das auf die Seitenstra§e hinausging, und einem professionellen Foto von Helena (seiner neuerlichen Ehefrau, einer GrŠfin und Schauspielerin) mit nackten Schultern, die seelenvoll zur Decke blickt. Wir setzten uns.


"Nun", sagte Christoph und drehte sich zu mir um. "Wie sagen die EnglŠnder? The balloon has gone up."


Ich erzŠhlte ihm von dem Plakat, das ich gesehen hatte, und fragte, was da los sei.


"Das ist das Problem. Keiner wei§, was hier los ist. Die meisten Leitungen sind gekappt worden. Wir kšnnen nicht nach MŸnchen durchkommen. Kennst Du die allgemeine Lage in Bayern?"


"Nicht wirklich. Gustav von Kahr ist eine Art Diktator, vom bayerischen Kabinett eingesetzt?"


Christoph nickte. "Von Kahr nennt sich Generalkommissar. Am liebsten wŸrde er Bayern aus der Republik herausholen, den Wittelsbachern die Krone zurŸckgeben, Prinz Rupprecht zum Kšnig von Bayern machen. Doch seine Macht hŠngt von der Reichswehr und der bayerischen Landespolizei ab. Der Befehlshaber der Reichswehr in Bayern war General von Lossow, ebenfalls ein Bayer. Seeckt hat ihn gerade abgelšst, weil Lossow einen Befehl zur Schlie§ung von Hitlers Zeitung verweigert hat. Also hat Seeckt General Kress von Kressenstein geschickt, um die Reichswehr in Bayern zu Ÿbernehmen, aber Kahr hat sich geweigert, diesen Wechsel zuzulassen. Kannst du das alles nachvollziehen?"


"Nicht ganz."


"Das kann ich dir nicht verdenken. Es ist ein všlliges Durcheinander. Auf jeden Fall wird Bayern von einem Triumvirat regiert - oder wurde es seit gestern Abend -: Kahr als Generalkommissar, Lossow als faktischer Reichswehrkommandant und ein Oberst von Seisser als Kommandeur der Landespolizei. Alle drei Herren wollen sich fraglos von Berlin lšsen und ihre bayerische Monarchie errichten.


"Auf der anderen Seite ist der Ort voll von extremen Nationalisten unter Ludendorff, Hitler, Gšring, Ršhm, Rossbach - alle vereint in etwas, das sie den Kampfbund nennen, Tausende von bewaffneten MŠnnern: S.A., Freikorps Oberland, Reichskriegsflagge - verschiedene Namen, dieselben Leute. Aber diese Kerle sind nicht daran interessiert, sich von Berlin loszumachen. Sie wollen Berlin erobern, die Republik zerstšren, Ebert und Stresemann und sogar Seeckt an den Laternenmasten Unter den Linden aufhŠngen. Ganz zu schweigen von allen, die den Versailler Vertrag unterschrieben haben, und allen sozialistischen Abgeordneten im Reichstag. Sie haben Kahr gedrŠngt und gedrŠngt, ihren Marsch auf Berlin anzufŸhren, aber bisher ist er nicht marschiert."


"Und was ist gestern Abend passiert?"


"Wir wissen nur, dass Kahr im BiirgerbrŠukeller, einer der grš§ten Bierhallen MŸnchens - er liegt auf der anderen Seite der Isar - ein riesiges Bankett gegeben hat, mit allen Politikern des rechten FlŸgels, den hšchsten Polizei- und Armeeoffizieren Bayerns, mit Lossow auf der BŸhne, mit Seisser auf der BŸhne, mit Bands, die patriotische Lieder spielten.... Anscheinend wollten sie etwas verkŸnden, aber niemand wei§, was."


"War Hitler da?"


"Ich nehme an, er muss hineingekommen sein, weil etwas passiert ist. Es wurde geschossen -"


Ein Klopfen an der TŸr unterbrach ihn, die TŸr šffnete sich und Bobby von Waldstein erschien. Er runzelte die Stirn. "Hast du etwas gehšrt? Oh, guten Morgen, Peter."


"Guten Morgen -"


"Nein, kein einziges Wort mehr, Bobby (Baron Robert von Waldstein, Sohn von Eduard von Waldstein)."


"Nun, Vater will es wissen, Christoph! Der Reichswehrfunk muss doch funktionieren..."


"Bobby, ich kann doch nicht einfach den Funkraum in der Bendlerstra§e anrufen."


"In der Vergangenheit haben deine Verbindungen immer -"


"Sag deinem Vater, dass ich mich bei ihm melde, sobald ich etwas hšre, Bobby-"


"Herr Baron?" Eine SekretŠrin stand hinter Bobby.


"Was gibt es?"


"Das BŸro von Dr. Stra§burger sagt, die Disconto-Gesellschaft hat jetzt eine Leitung nach MŸnchen offen. Er bittet Sie, in das BŸro von Dr. Salomonsohn zu gehen..."


Bobby zog sich zurŸck und schloss die TŸr.


Christoph seufzte, stand auf und ging zum Fenster hinŸber, die HŠnde in den Taschen. "Glaubst du, die wollen mich hier als Banker haben - oder als Geheimdienstler?"


"Vielleicht ein bisschen von beidem", sagte ich. "Banker mŸssen wissen, was vor sich geht. Wei§t du nicht mehr, wie die Rothschild-Brieftauben die ersten Nachrichten darŸber brachten, wer die Schlacht von Waterloo gewonnen hat?"


Christoph drehte sich um und lŠchelte zum ersten Mal.


"Wenn ich ein Kompliment zurŸckgeben darf, das du mir vor langer Zeit gemacht hast: FŸr einen KŸnstler kennst du eine Menge Geschichte. Da fŸhle ich mich doch gleich viel besser. Hšre: ich habe von Stra§burger den Auftrag, dir die Rentenmark zu erklŠren. Hast du von dem Plan in der Zeitung gelesen?"


"Ich habe etwas gelesen, aber ich verstehe kein Wort davon."


"Dann bist du in bester Gesellschaft, denn niemand versteht es wirklich, aber ich werde dir sagen, was wir fŸr die Theorie halten." Er setzte sich in seinen Drehstuhl, lehnte sich zurŸck und legte die Fingerspitzen aneinander. "Alle sind sich einig, dass die Regierung etwas tun muss, um die Mark zu stabilisieren, aber was? Erinnerst du sich an Karl Helfferich von der Deutschen Bank, den Mann, der diese schrecklichen Reden gegen Rathenau gehalten hat?"


"Ja, natŸrlich erinnere ich mich. Sie zischten ihn im Reichstag an..."


"Ja, sie zischten ihn an. Aber er ist ein ziemlich genialer Bankier, und letzten Sommer kam er auf die Idee einer Roggenmark, einer neuen WŠhrung, die an den Wert einer bestimmten Menge Roggen gebunden ist. So etwas ist im letzten Jahr schon oft gemacht worden. Das Land Oldenburg hat es getan. Private Unternehmen haben es getan. Sie haben Anleihen ausgegeben, die in so und so vielen Tonnen Roggen, Weizen, Mais, NitratdŸnger oder FŠssern Wein zu einem zukŸnftigen Zeitpunkt zahlbar sind. NatŸrlich wird der Preis dieser Anleihen je nach Roggen-, Weizen- oder Maispreis steigen und fallen, aber zumindest wei§ man, dass sie etwas wert sein werden. Die Menschen waren also bereit, diese Papiere zu kaufen, die Bauern waren bereit, ihre Ernte abzuliefern, die Fabriken waren bereit, ihre Waren zu verkaufen, einige Spekulanten haben sogar auslŠndische WŠhrungen bezahlt - mit anderen Worten, die Roggenanleihen, die Weizenanleihen, die Weinanleihen haben funktioniert - in kleinem Ma§stab. Verstehst du das?"


Ich verstand nur vage. "So etwas nennen wir WarentermingeschŠfte?"


"Ja, ich denke schon. Jetzt will Hefferich auf dieser Basis eine ganz neue WŠhrung herausgeben, eine Roggenmark. Und als zusŠtzliche Sicherheit will er alle landwirtschaftlichen und gewerblichen GrundstŸcke in Deutschland mit Grundpfandrechten belasten. Diese Hypotheken - man nennt sie Rentenbriefe - sollen das Kapital der neuen WŠhrungsbank bilden, die von der Reichsbank getrennt ist. Nun, die Regierung wollte die Roggenmark nicht. Ich bin mir nicht sicher, warum, vielleicht ist sie zu exotisch, vielleicht gibt es einfach nicht so viel Roggen in Deutschland - ehrlich gesagt, ich wei§ nicht genau, warum sie es nicht getan haben, aber sie haben seine Idee modifiziert, sie haben ein sehr seltsames Tier erfunden, die Rentenmark. Zuerst haben sie Helfferichs Idee aufgegriffen und eine neue Emissionsbank namens Rentenbank gegrŸndet, všllig unabhŠngig von der Reichsbank, und diese Rentenbank ist mit einer ersten Hypothek auf alle Bauernhšfe und alle Fabriken in Deutschland kapitalisiert."


"Das macht keinen Sinn", sagte ich. "Wie kann man eine erste Hypothek auf den gesamten Grundbesitz im ganzen Land aufnehmen? Wie kšnnten Sie jemals durchsetzen -"


"NatŸrlich macht das keinen Sinn! Die eigentliche Frage ist: Wird es funktionieren?"


"Diese Rentenbank wird also ihre eigenen Rentenmarken ausgeben?"


"Ja, genau."


"Umtauschbar in Roggen?"


"Nein! Vergessen Sie den Roggen. Kann - eines Tages - in Goldmark umgewandelt werden."


"Zu welchem Kurs?"


"Das ist die Frage. Das wei§ noch niemand. Die Entscheidung wird ein unabhŠngiger ReichswŠhrungskommissar - ich nehme an, du wŸrdest WŠhrungskommissar sagen - treffen, der noch nicht ernannt worden ist."


"Und wer wird das sein?


Christoph schaute auf seine Fingerspitzen. Ich wei§ nur, wer es nicht sein wird."


Stille. Unsere Blicke trafen sich.


"Sie haben Strassburger gefragt?"


Christoph nickte.


"Wer hat ihn gefragt?"


"Dr. Luther, Finanzminister, ehemaliger OberbŸrgermeister von Essen, ein exzellenter Mann, der eine schreckliche Niederlage einstecken muss, weil die Reichsbank verrŸckt geworden zu sein scheint und er keine Macht Ÿber die Reichsbank hat -"


Das Telefon klingelte und Christoph griff zum Hšrer. "Ja, natŸrlich, stellen Sie ihn sofort durch.... Keith hier! Morgen.... Ja, natŸrlich, wir kauen uns die FingernŠgel ab, wie Sie sich vorstellen kšnnen.... Nun, fŸr jede Nachricht sind wir dankbar.... Aha .... Aha .... Was? ... Ein Maschinengewehr? ...Wie viele MŠnner? ... Aha .... Aha. . .."


Die Stimme am anderen Ende berichtete, und Christoph lauschte, sah mich an, sah durch mich hindurch, sah in ein anderes Land. "Sie gehen lassen? ... Oh, auf BewŠhrung - na ja! Wir wissen also nicht, wie die Lage heute Morgen ist? Donnerwetter! ... Ja, sind Sie so nett? Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie dankbar wir sind. Vielen Dank, alter Junge." Er legte auf, und sofort klingelte das Telefon wieder.


"Guten Morgen, Herr Baron, ... gerade eben. Gerade aufgelegt.... Unklar.... Ich sagte, die Situation sei unklar. Soll ich vorbeikommen und es erklŠren? ...Speisesaal?" Christoph warf einen Blick auf seine Armbanduhr. "In Ordnung, ... Herr Baron, ich habe Peter Ellis hier, ich wollte ihm die Rentenmark erklŠren - darf ich ihn mitbringen?"


"Kahr hielt also eine lange Rede, und plštzlich stŸrmten Hitler und Gšring mit einer Truppe von SS-Leuten in Stahlhelmen herein. Mit Pistolen. Ein PandŠmonium. Geschrei und umgeworfene BierkrŸge und Frauen, die in Ohnmacht fielen, und Hitler kletterte auf einen Tisch und schoss an die Decke, und das ganze Lokal war still."


Auch im Speisesaal der Partner von Waldstein & Co. war es still. Bleiche, besorgte Gesichter sind auf Christoph gerichtet, als er wiederholt, was er gerade aus der Bendlerstra§e, dem Hauptquartier der Reichswehr, gehšrt hat.


"Die S.A. hat ein Maschinengewehr in der Vorhalle aufgestellt. Hitler sagte, das BŸrgerbrŠu sei umzingelt, er sagte, das Wehrkreiskommando VII habe das Hakenkreuz gehisst, er sagte, die Republik sei abgeschafft, er sagte, Ludendorff werde die neue Regierung leiten, und dann nahm er Kahr und Lossow und Seisser mit in ein anderes Zimmer, und Ludendorff erschien, und sie machten eine Art Abkommen, wonach sie offenbar alle Minister in der neuen Regierung sein wŸrden, Prinz Rupprecht bitten wŸrden, Kšnig von Bayern zu werden - und dann wŸrden sie alle zusammen auf Berlin marschieren."


Pause. Baron Eduard zog seine schwere Golduhr aus der Westentasche und wandte sich dann an Baron Fritz. "Lass sie doch das Mittagessen servieren. Meine Herren?"


"Wollen Sie, dass die Dienerschaft das hšrt?", fragte Baron Fritz.


"Sie werden es sowieso erfahren", sagte Dr. Stra§burger. Jemand šffnete die TŸr und gab einen Befehl, Kellner begannen, Tabletts mit dampfenden SuppenschŸsseln hereinzutragen, und Bobby erschien, immer noch in einem durchnŠssten Trenchcoat.


"Die Situation da unten ist všllig verworren", begann er, wŠhrend er den Mantel an einen Kellner weiterreichte und sich setzte. "Niemand scheint zu wissen, was los ist."


"Lassen Sie Christoph seinen Bericht zu Ende bringen", sagte Dr. Stra§burger.


"Hitler und Ludendorff holten also Kahr, Lossow und Seisser wieder in den Saal, und die ganze Stimmung war 'Auf nach Berlin', Reden, TreueschwŸre, MilitŠrkapelle, alle sangen 'Deutschland Ÿber alles' - und dann wurde Hitler weggerufen. Offenbar kamen weder die Reichswehrgarnisonen noch die Landespolizei. In dem Moment, in dem Hitler weg war, sagten Kahr, Lossow und Seisser, dass sie auch gehen mŸssten. Die Kommandeure der SA wollten sie nicht gehen lassen, aber sie gaben Ludendorff ihre Einwilligung, und Ludendorff Ÿberstimmte die SA. Wenn man dem Wort eines deutschen Offiziers nicht trauen kann, wem kann man dann trauen?"


Wir a§en dabei unsere Suppe und die Kellner schenkten den Moselwein ein.


"Ist das das Ende des Berichts?", fragte Dr. Stra§burger.


"Nein", antwortete Christoph. "Zwei Stunden spŠter meldete sich General von Lossow im Hauptquartier des Neunzehnten Infanterieregiments in der Bendlerstra§e per Funk und teilte mit, dass die Reichswehr in MŸnchen in Kampfformation gegen Hitler auf den Stra§en sei. Ebenso die Landespolizei. Aus Augsburg, aus Landsberg, aus Kempten werden eilig weitere Truppen in die Stadt geschafft. Kahr hat die Regierung von Bayern nach Regensburg verlegt. Auf der anderen Seite haben Kadetten der Infanterieschule gemeutert und sind zu Ernst Ršhms Reichskriegsflagge Ÿbergelaufen, und sie haben das alte Kriegsministerium am Odeonsplatz besetzt."


"Das ist alles noch General Lossow, der nach Berlin berichtet?" fragte Dr. Stra§burger.


"Ja. Die Reichswehr und die Landespolizei haben die BrŸcken Ÿber die Isar gesperrt, die EingŠnge zum Odeonsplatz verbarrikadiert und Ršhm im alten Kriegsministerium umstellt."


"Und bis jetzt ist nur die Decke des BŸrgerbrŠus von SchŸssen getroffen worden?", fragte Baron Eduard.


Nervšses Lachen.


"Das ist mein Bericht", schloss Christoph.


Die Suppenteller wurden abgerŠumt und es wurde etwas anderes serviert. Ich wei§ nicht mehr, was es war.


"Also gut, was gibt es Neues von der Disconto?" fragte Baron Fritz Bobby.


"Wir haben mit Dr. Sippell gesprochen, der unten in MŸnchen an einem Dollarkredit fŸr BMW arbeitet, und aus irgendeinem Grund hatten sie eine offene Leitung. Er sagt, die Stra§en sind voller Soldaten und Polizisten, Hakenkreuzfahnen hŠngen Ÿberall in der Stadt von den Balkonen. Die Fenster der Maklerfirma Abraham Bleibtreu und Co. in der Kaufingerstra§e wurden eingeschlagen. Julius Streicher erzŠhlt auf dem Marienplatz, jŸdische Bankiers hŠtten die Inflation erfunden. BMW-LKW-Fahrer sagen, dass sich Tausende von Kampfbund-Leuten zwischen BŸrgerbrŠu und Isar versammelten."


Bobby hielt inne, um Luft zu holen. "Dr. Sippell sagt, die Stimmung sei Ÿbel. Wenn die S.A. und das Freikorps Oberland versuchen, Ÿber die BrŸcken in die Stadt zu kommen - wird die Reichswehr schie§en? Wird die Landespolizei schie§en? Das scheint niemand zu wissen."


"Was hat Seeckt beim Kapp-Putsch gesagt?", fragte Dr. Stra§burger. "Deutsche Soldaten schie§en nicht auf deutsche Soldaten!"


"Nein, Herr Dr.Stra§burger", sagte Christoph. "Was er gesagt hat, war: 'Reichswehr schie§t nicht auf Reichswehr.' Diese Hitler-Leute sind nicht die Reichswehr." Er machte eine Pause, um etwas Wein zu trinken. Ich beobachtete, wie die anderen ihn beobachteten. "Ich glaube, die Armee wird die Stadt halten."


Dr. Stra§burger nickte nachdenklich. "Wir werden es bald wissen, nicht wahr? Meine Herren, vielleicht sollten wir wieder an die Arbeit gehen und diese tršstlichen Gedanken unseren Kunden mitteilen."


"Ich glaube, ich sollte nicht deinen ganzen Tag in Anspruch nehmen", sagte ich zu Christoph.


"Heute gibt es nicht viel zu tun. Auf jeden Fall soll ich dich bei deinen Investitionen beraten."


"Na gut, berate mich."


Christoph schaute mich einen Moment lang an. Dann sagte er: "Geh nach Hause!"


"Nach Hause gehen? Was fŸr ein Investitionsratschlag ist das?"


"Das ist der einzige ehrliche Rat, den ich dir geben kann. Wie sagt man in deinem Land? Lšs deine Chips ein und geh nach Hause."


"Ist das Dr. Stra§burgers Rat?"


"Nein. Es ist mein Rat."


"Warum, Christoph?"


"Weil niemand wei§, was hier passieren wird. Niemand! Die Franzosen sind immer noch im Ruhrgebiet, niemand wei§ jetzt schon, welche Reparationen wir zahlen mŸssen, die Deutsche Mark ist buchstŠblich das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist, und jetzt hat Hitler die Bayern zum Aufstand getrieben."


"Aber du hast ihnen doch gerade gesagt, dass die Reichswehr MŸnchen halten wird."


"Ja. Das habe ich ihnen gesagt."


"Du glaubst es nicht?"


"Ich glaube, sie werden ihre Befehle ausfŸhren. Die Frage ist nur: Wer gibt da unten die Befehle? Mir gefŠllt die Geschichte nicht, dass die Infanteriekadetten zu Ršhm Ÿbergelaufen sind. Und was ist, wenn die Reichswehr diesen Putsch niederschlŠgt? Tausende und Abertausende von Menschen marschieren fŸr Hitler, Tausende hŠngen ihre Fahnen aus ihren Fenstern. Wird die Reichswehr sie alle erschie§en? Wird Stresemanns Regierung sie alle ins GefŠngnis stecken?"


Ein Name und ein Gesicht schwebten in der Luft zwischen uns. Ich wich seinem Blick aus.


"Aber wenn sie gewinnen!" Christoph zog ein schlankes Krokodil-Etui aus einer Innentasche und bot mir eine Zigarette an, zŸndete ein Streichholz an, steckte meine an, zŸndete seine an... "Wenn sie gewinnen, wirst man ein Blutbad erleben."


Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wir rauchten eine Minute lang schweigend. "Christoph, ich bin noch nicht bereit, meine Chips einzulšsen. Mir gefŠllt es hier. Ich bin mitteen beim Malen. Ich bin in Lili verliebt. Ich fŸhle mich ... ich wei§ nicht, ich fŸhle mich irgendwie beteiligt."


Ein dŸsteres LŠcheln. "Ja, du bist involviert, mein Freund. Das ist keine Frage." (Ich hatte mit Christoph daran gearbeitet, das Attentat auf Walter Rathenau zu behindern.)


"Nun, was soll ich mit meinen Investitionen machen? Soll ich meine Aktien halten?"


"Der Markt hat stark nachgegeben, als wir zu Mittag gegessen haben, wegen der Hitler-Sache, der Unsicherheit Ÿber die Rentenmark -"


"Nun, was ist mit dieser Rentenmark-Sache? Wird sie funktionieren?"


"Wer wei§? Wie du sofort gesehen hast, ist es nichts anderes als ein Vertrauensspiel, ein Spiel mit Spiegeln. Es wird nur funktionieren, wenn die Leute daran glauben. Es kšnnte funktionieren, man sollte es versuchen, es kommt darauf an, wer dafŸr kandidiert, ob er hart genug ist."


"Nun, Stra§burger ist sicher hart genug. Warum hat er den Job nicht angenommen?"


Christoph erhob sich von seinem Stuhl und begann, im Raum umherzugehen.


"Er sagte dem Finanzminister, dass Waldstein und Co. in dieser Zeit der Krise nicht auf seine Dienste verzichten kšnnten, dass die Barone ihm die Mšglichkeit gegeben hŠtten, seine jetzige Position zu erreichen und dass er sie jetzt nicht verlassen kšnne, weil sie ihn brŠuchten, um die Firma durchzubringen."


"Das klingt sehr vernŸnftig", sagte ich.


"Sehr vernŸnftig." Er war stehen geblieben, um wieder aus dem Fenster zu sehen.


"Aber nicht Ÿberzeugend fŸr dich?"


"Nein." Er starrte weiter in den Regen hinaus.


Ich sagte: "Die Rathenau-Geschichte noch einmal."


Christoph drehte sich um. "Ja, natŸrlich. Das ist der wahre Grund."


"Du glaubst, er hat Angst, erschossen zu werden?"


"Nein, ich glaube nicht, dass es das ist. Auf jeden Fall wŸrde er nicht so mit einem Attentat liebŠugeln, wie Rathenau es tat. Der Grund dafŸr ist, dass, wenn ein jŸdischer Partner in einer jŸdischen Bankfirma ReichswŠhrungskommissar wird, dann wird das ganze Programm fŸr viele, viele Leute sofort zu einem jŸdischen Komplott, zu einem Plan fŸr die Juden, mehr Geld zu machen, und sie werden nicht glauben, dass die Sache funktionieren wird, und wie wir gesagt haben, wenn sie nicht glauben, dass es funktionieren wird, dann kann es nicht funktionieren. Und was auch immer geschieht, die Menschen, deren Existenz durch die Inflation vernichtet wurde, deren Existenz bleibt weiterhin vernichtet, hšchstwahrscheinlich geraten noch mehr Menschen durch diese Korrekturma§nahmen in den Abgrund - und dann wird der ganze Schlamassel natŸrlich die Schuld von -"


Das Telefon klingelte.


"Ja? Ja, Bobby.... Aha.... Aha. ..." Christophs Mundwinkel zogen sich zu einer Art Grimasse nach unten, als er zuhšrte. "Hmm.... Wei§ der Markt das schon? .. . Hmm.... Was hat Stra§burger gesagt? ... Nun, verkauft er oder kauft er, oder was? ... MilitŠrische RatschlŠge? Wie kann ich jemandem auf der Grundlage solcher Informationen einen militŠrischen Rat geben? Nein, ich werde sie nicht anrufen! Was wŸrde passieren, wenn jede Bank in der Stadt anruft ... Ja, ich stimme dir zu, ich komme sofort rŸber." Sein Gesicht errštete, als er den Hšrer auf die Gabel knallte. "Die Disconto-Gesellschaft hat gerade wieder von ihrem Mann gehšrt. Er sagt, die SA und das Oberlandkorps haben die Polizei auf einer der BrŸcken entwaffnet und marschieren zum Kriegsministerium, um sich mit Ršhm zu treffen. General Ludendorff fŸhrt den Marsch an, Hitler und Gšring sind an seiner Seite. Die Bšrse ist in Aufruhr und Stra§burger will, dass ich noch einmal in der Bendlerstra§e anrufe. Du entschuldigst mich bitte, Peter. . . ."


"Aber natŸrlich. Ich komme wieder, wenn du Zeit hast -"


"Nein, bleib hier, es dauert nicht lange." Er blieb in der TŸr stehen. "Sollen wir deine Aktien verkaufen?"


"Frag Stra§burger."


Christoph nickte und war verschwunden.


Es war fast Zeit, dass Lili von der Schule nach Hause kam, also hŠtte ich zum Pariser Platz gehen kšnnen. Oder ich hŠtte eines der Museen besuchen kšnnen und mich - wie so oft - in den Werken von MŠnnern verlieren kšnnen, deren Ergebnisse ich niemals erreichen kšnnte. Aber ich tat es nicht. Ich sa§ da, sah dem Regen zu, fragte mich, ob es in MŸnchen regnete, fragte mich, warum es mir so wichtig sein sollte, ob Hans von Seeckt oder Adolf Hitler Deutschland regiert. Ich erinnerte mich an Whitney Wood, der Miss Boatwright und mir vorwarf, "heimisch" zu werden. Wie soll ich meine Chips einlšsen und nach Hause gehen, wenn Lili nicht mitkommen kann? Ich will nicht nach Hause gehen. Ich habe mich zu Hause nie sehr wohl gefŸhlt. Seit ich hier bin, habe ich keinen einzigen Brief mehr bekommen. Sie haben mich abgeschrieben.


Und wenn Hitler gewinnt? Kšnnte er den Waldsteins etwas antun? Was kšnnte er mit ihnen machen? Sie kaufen nur Hitlers Stimme, so hat es Whitney Wood erklŠrt. "Sie": Gro§industrielle, Kohlebarone, Stahlbarone ... brauchen Hitler, um die Kommunisten und Sozialisten zu zerschlagen, um die Arbeiter bei der Stange zu halten. "Sie" werden nicht zulassen, dass ein šsterreichischer Gefreiter irgendetwas leitet, sobald die verhasste Republik gestŸrzt ist....


Das ist es, was Whitney Wood gesagt wurde, und er glaubt es.


Glaubt Christoph Keith das auch?


Glaubt es Oberverwaltungsgerichtsrat Dr. von Winterfeldt?


Glaubt Sigrid von Waldstein daran?


Glaubt es Leutnant Graf BrŸhl?


Und glauben es die Partner von Waldstein & Co. Ÿberhaupt? Wenn ich mich an die Gesichter im Speisesaal erinnere ...


Und doch, wird irgendjemand den Herren sagen, dass sie ihre Chips einlšsen sollen? Allein der Gedanke daran brachte mich zum LŠcheln - in diesem stillen Raum am Freitagnachmittag, dem neunten November 1923, und so lŠchelte ich auch, als die TŸr aufsprang und Helena - prŠchtig aussehend mit schwarzer BaskenmŸtze und schwarzem, glitzerndem Regenmantel - rief: "Hast du die Neuigkeiten gehšrt!"


"Nein, welche Neuigkeiten?"


Einer der Lakaien trug einen Weidenkorb, den er vor mir auf den Boden stellte.


"Holen Sie noch ein Glas", forderte sie ihn auf. Ich wusste nicht, dass Mr. Ellis hier ist. Wo ist mein gro§er Bankier?"


"Er ist bei Dr. Stra§burger", sagte ich. "Welche Neuigkeiten haben Sie?"


"Der Putsch ist vorbei. Hitler ist geflohen!"


"Sind Sie sicher? Wir haben gerade gehšrt, dass General Ludendorff einen Marsch durch die Stadt angefŸhrt hat, sie haben die Polizei Ÿberrannt -"


"Nun, sie haben sie nicht Ÿberrannt, als sie am Odeonsplatz ankamen." Sie steckte den Kopf aus der TŸr. "FrŠulein Schmidt, wŸrden Sie so gut sein und meinen Mann holen?"


"Oh, Hoheit - pardon ... GnŠdige Frau - Herr Oberleutnant ist bei Geheimrat Dr. Stra§burger -"


"Sagen Sie Herrn Dr. Stra§burger, er soll auch kommen, und sagen Sie meinen Onkeln (Eduard und Fritz Waldstein) Bescheid, und vielleicht sollten noch ein paar GlŠser gebracht werden. . . ."


Als ich die Korken aus den Sektflaschen gezogen hatte, fŸllte sich der kleine Raum mit Bankiers, die alle schweigend Helena zuhšrten, die mit gekreuzten Beinen auf der Kante von Christophs offenem Schreibtisch sa§ und ihnen erzŠhlte, was sie gehšrt hatte.


Niemand fragte sie, von wem sie von diesen Ereignissen erfahren hatte, die vor weniger als einer Stunde stattfgefunden hatten. Sie schauten und hšrten zu und betrachteten ihre Beine mit mehr oder weniger gro§em Missfallen. Die Partner von Waldstein & Co. waren es nicht gewohnt, dass Ehefrauen im Haus waren - und schon gar nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit -, aber natŸrlich war Helena in diesem Punkt wie in allem anderen etwas Besonderes. Und sie wollten hšren, was sie zu berichten hatte.


"Der Grund, warum sie Ÿber die BrŸcke kamen, war, dass die Polizei angewiesen worden war, ihre Gewehre zu entladen, also schwŠrmten die S.A. und das Oberland einfach Ÿber sie hinweg. Sie nahmen die Polizisten gefangen und marschierten in die Stadt. Sie haben gesungen. Menschenmassen marschierten mit. Ludendorff und Hitler und Gšring und einige andere marschierten an der Spitze. Sie marschierten in Richtung Odeonsplatz, denn dort war Ršhm, der sich im Wehrkreiskommando verschanzt hatte. Der Odeonsplatz war abgesperrt, einige EingŠnge von der Reichswehr, einige EingŠnge von der Landespolizei. Ludendorff bog in die Residenzstra§e ein, die so eng ist, dass sie nur zu sechst marschieren konnten, aber sie mussten Ludendorff folgen, denn kein deutscher Soldat wŸrde auf Ludendorff schie§en, er ist ihr Talisman. Die Residenzstra§e mŸndet also auf dem Odeonsplatz bei der Feldherrnhalle, einem kleinen Kriegsdenkmal, einer Art Pavillon, und der wurde von einer Truppe der Landespolizei bewacht, mit Gewehren, und ihr Leutnant forderte die Marschierer auf, stehen zu bleiben, aber sie marschierten weiter, und jemand schrie: "Nicht schie§en, es ist Exzellenz Ludendorff! Aber jemand schoss, niemand wei§, wer zuerst schoss, und dann feuerte die Polizei eine Salve ab, und die Marschierer in der ersten Reihe warfen sich nieder auf den BŸrgersteig - alle au§er Ludendorff. Er ging weiter auf die Polizei zu, mit den HŠnden in den Taschen, und lief durch die Polizei hindurch auf den Odeonsplatz. Und schlie§lich beschlossen sie, ihn auf die Polizeiwache einzuladen, und als sie dort ankamen, fragte ihn der diensthabende Wachtmeister nach seinem Namen!"


Ein Lachanfall durchbrach die Spannung.


"Aber was ist mit Hitler passiert?", fragte Bobby von Waldstein.


"Er stand von dem Menschenhaufen auf der Stra§e auf und rannte, und an der Ecke parkte ein Auto, und Hitler sprang in das Auto und wurde weggefahren."


"Wurde er angeschossen?", fragte jemand.


"Sie wissen es nicht. Aber Gšring wurde angeschossen. Er wurde gesehen, wie er in einer TŸr lehnte. Blut auf seiner Hose. Und dann ist er auch verschwunden. Aber nicht mit Hitler."


"Wurde jemand getštet?", fragte Baron Fritz.


"Ja, ein Mann, der neben Hitler marschierte, und sie glauben, ein Dutzend weitere in den hinteren Reihen, und zwei Polizisten."


Stille. Dann eine Stimme aus dem Hintergrund: "Donnerwetter!"


"Was ist denn jetzt los?", fragte Christoph.


"Nur všllige Verwirrung, anscheinend. Die Nazis sind auf dem Heimweg. Ršhm hat das Kriegsministerium aufgegeben, aber niemand wei§, was mit ihm geschehen soll. Er hatte Infanteriekadetten da drin, und die wurden zurŸck in ihre Schule beordert. Nach der Schie§erei sind Menschenmassen auf den Odeonsplatz gestršmt, aber sie werden mit Lanzenreitern vertrieben. Berittene Lanzenreiter."


"Ich frage mich, ob Seine Exzellenz der Generalkommissar Ritter von Kahr es fŸr sicher hŠlt, die Regierung von Bayern nach MŸnchen zurŸckzuholen", sagte Baron Eduard. Er klang sarkastisch.


Helena wusste nichts Ÿber von Kahr.


"Nun, auf jeden Fall", sagte Baron Eduard, "scheint der Marsch auf Berlin nicht Ÿber den Odeonsplatz in MŸnchen hinausgekommen zu sein."


"Diesmal", sagte Dr. Stra§burger, und dann klingelte das Telefon auf Christophs Schreibtisch. Helena reichte ihm den Hšrer.


"Keith hier.... Ich verstehe.... gut. Ja, ich werde es ihnen sagen. Dankeschšn." Er legte auf. "Unsere Telefonzentrale meldet, dass Sie alle viele Telefonanfragen haben. Sowohl Dr. Stra§burger als auch Baron Fritz haben Anrufe aus MŸnchen, also sind die Leitungen offenbar offen .... " Der Raum leerte sich schnell.


Dr. Stra§burger sagte: "Eure Hoheit ... verzeihen Sie, Frau Keith, wir stehen alle in Ihrer Schuld, weil Sie uns so schnell diese lebenswichtige Information gegeben haben -"


"Ja, meine Liebe", sagte Baron Eduard. "Unser Haus hat sich immer damit gerŸhmt, gut informiert zu sein, aber das muss ein neuer Rekord sein."


Helena senkte demŸtig ihre Wimpern. "Es ist mir jedenfalls eine Freude, gute Nachrichten zu Ÿberbringen." Sie reichte ihm die Hand. Als Baron Eduard und Dr. Stra§burger gegangen waren, wandte sie sich an mich. "Peter, bringst du mich jetzt nach Hause?"


Sie jetzt nach Hause bringen? Ich schaute Christoph an, der sehr mit den Papieren auf seinem Schreibtisch beschŠftigt zu sein schien, und dann klingelte wieder sein Telefon.


"Keith hier...


Ja, natŸrlich, stellen Sie ihn durch.... Guten Tag. Was gibt's Neues von der Front? ... Wirklich?... Ist er weggelaufen? Ist er verletzt... Bayerische Landespolizei? Das ist doch verdammt beeindruckend, oder? Und was ist dann passiert?" Christoph legte seine Hand auf das MundstŸck und sah uns an. "Im Grunde die gleiche Geschichte. Bringst du Helena nach Hause, Peter? Ich komme nach, so schnell ich kann." Dann wieder ins Telefon: "Lassen sie sie einfach nach Hause gehen oder nehmen sie sie fest?"


Im Taxi war Helena sehr still. "Ist etwas nicht in Ordnung?" fragte ich.


Sie seufzte. "Ich habe eine Dummheit gemacht." Sie drehte sich zu mir um, und ich sah, dass ihre Augen glŸhten. "Aber ich habe es so gut gemeint, Peter! Ich habe mich gefreut, ich war erleichtert, ich dachte, er wŠre stolz auf mich, weil ich so schnell, so schnell eine so wichtige Nachricht Ÿberbracht habe, die fŸr sie in ihren finanziellen Angelegenheiten etwas bewirken kann -"


(Hatten sie meine Aktien verkauft?j


"Er ist stolz auf Sie, Helena. Sie waren alle sehr beeindruckt, ich konnte es sehen. . . ."


"Was ich sehen konnte, war, dass sie dachten: 'Sie muss das alles im Bett gehšrt haben' und 'Geht er wirklich mittags mit einer Frau ins Bett, mitten in einer nationalen Krise?' Das ist es, was sie dachten!"


"Oh nein, Helena, ich bin sicher, dass das niemandem in den Sinn gekommen ist!"


"Oh doch, es ist allen in den Sinn gekommen." Sie schnŠuzte sich heftig die Nase. "So dumm! So unnštig! Ich bin zu alt, um mich so lŠcherlich zu machen. Und vor Christoph!"


Wir fuhren schweigend weiter. Zum ersten Mal bemerkte ich, dass die Stadt vor Soldaten wimmelte. Vor dem Haupttelefonamt in der Leipziger Stra§e parkten Lastwagenladungen der Reichswehr. Ein Panzerwagen und ein Trupp Infanteristen fŸllten einen ganzen BŸrgersteig am Potsdamer Platz - Gewehre und Bandoliere und harte Augen unter den tropfenden Helmen. Als unser Taxifahrer versuchte, den Landwehrkanal Ÿber eine AbkŸrzung durch die Bendlerstra§e zu erreichen, winkte ihn die Verkehrspolizei ab. Hinter der Polizei war eine Stacheldrahtbarrikade, und hinter der Barrikade beobachtete uns eine behelmte Maschinengewehrmannschaft Ÿber ihre Gewehrrohre. Unten am anderen Ende der Stra§e, vor dem Reichswehrhauptquartier, glitzerte ein weiterer Panzerwagen im Regen. FŸr mich sah es nicht so aus, als ob der Mann, der fŸr diese Mobilmachung verantwortlich war, seine Mittagspause im Bett verbracht hŠtte.


Als wir am LŸtzowufer ankamen, wollte der Fahrer 500.000.000.000 Mark.


"Jetzt warten Sie mal", protestierte ich. "Ich bin heute morgen aus dem Grunewald fŸr umgerechnet 400.000.000.000 Mark hierher gekommen -"


"Aber das war heute morgen. Seitdem hat sich der Kurs dreimal geŠndert, und wir haben eine Revolution hinter uns!"


NatŸrlich hatte ich vergessen, in der Bank deutsches Geld zu holen, und ich hatte keine amerikanischen MŸnzen mehr, also wollte ich ihm einen Dollarschein geben, aber Helena hielt meine Hand fest. "Bist du verrŸckt? Sie šffnete ihre Handtasche und zog fŸnf der neuen 1oo,ooo,ooo,ooo Mark-Scheine heraus. Sie waren nur auf einer Seite bedruckt, und die noch feuchte Tinte hinterlie§ Flecken auf ihren Handschuhen.


Helena sagte ihrem DienstmŠdchen, es solle uns eine Flasche Champagner bringen.


"Noch Champagner?"


"Ich fŸrchte, ich brauche ihn. Trinkst du mit mir?"


"Na gut. Aber wozu brauchen Sie ihn?"


"Um die Geschichte zu beenden."


"Die Geschichte zu beenden? Warum haben Sie sie nicht in der Bank beendet?"


"Weil ich nicht will, dass Christoph diesen Teil hšrt. Aber ich muss es jemandem erzŠhlen."


Das DienstmŠdchen trug ein silbernes Tablett mit einer Flasche deutschen Sekt und zwei GlŠsern herein. Helena stellte sich an die FenstertŸr und schaute in den dunkler werdenden Nachmittag hinaus. "KŸmmere dich nicht um das Feuer, Clara. Mr. Ellis kann es anzŸnden."


Das DienstmŠdchen ging hinaus und schloss die TŸr. Ich lie§ den Korken knallen, goss den Sekt ein (Sekt?... von Seeckt? Ich konzentrierte mich dummerweise zum ersten Mal auf die Worte) und brachte Helena ihr Glas.


"Es ist Kaspar, nicht wahr?"


Sie nickte, nippte an ihrem Wein und blickte immer noch auf die Stra§enlaternen und den Regen, der in den Landwehrkanal fiel.


"Ist er tot?"


"Wei§t du was? Ich hoffe es ehrlich gesagt. Ist das nicht schrecklich? Sie haben die Leichen in der Feldherrnhalle noch nicht identifiziert. Ich kšnnte jeden Moment einen Anruf bekommen."


"Aber Sie glauben, er war dort?"


"Ja." Sie trank ihr Glas aus. "Als die S.A. gestern Abend den BiirgerbrŠukeller angegriffen hat, hat sozusagen eine neue Formation ihr DebŸt gegeben."


"Was fŸr eine Formation?"


"Elitetruppen, persšnliche LeibwŠchter, Stosstrupp Adolf Hitler, wenn du so willst. Schwarze SkimŸtzen, um sie zu unterscheiden. Und was tragen sie wohl vorne auf ihren SkimŸtzen?"


"Ein Hakenkreuz."


"Das Hakenkreuz ist auf der Armbinde. Auf der SkimŸtze ist ein kleiner silberner Totenkopf!"


Ich habe nichts gesagt. Ich trank meinen Wein, spŸrte ihn jetzt, spŸrte auch, dass der Raum dunkel und feucht war, stellte mein Glas zurŸck auf das Tablett und machte mich daran, das Feuer anzuzŸnden. Es brannte schnell. Das Zimmer sah wieder warm und schšn aus.


Ich drehte mich um. "Helena, das hei§t nicht unbedingt, dass er da war..."


"Er war da. Die Frage ist nur, ob er tot ist oder ob er sich irgendwo versteckt, vielleicht verwundet, wie Gšring, innerlich verbrannt, an seiner Wut erstickt. Noch eine Niederlage! Sie mŸssen sich dem Sieg so nahe gefŸhlt haben. In der einen Minute marschieren sie durch die Stra§en und singen ihre Lieder, die Fahnen wehen, die Menschen jubeln, sie marschieren auf Berlin zu... und in der nŠchsten Minute liegen sie flach auf dem Kopfsteinpflaster, Adolf Hitler rennt davon, ein weiterer Putsch ist gescheitert, ein weiterer Marsch ist vorbei. Kannst du dir vorstellen, wie er sich in diesem Moment fŸhlt - wenn er noch lebt?"


"Helena, Sie mŸssen Christoph davon erzŠhlen!"


Sie schŸttelte den Kopf. "Ich kann nicht."


"Warum nicht? Er wird es sowieso erfahren. Er redet gerade mit der Bendlerstra§e, er wird mit anderen reden, es wird Zeitungsberichte geben -"


Sie ging zum Tablett hinŸber, fŸllte beide GlŠser nach, reichte mir meines, setzte sich aufs Sofa und starrte in die Flammen.


"Helena, stellen Sie sich vor, ich kšnnte einen Job in New York arrangieren ... stellen Sie sich vor, ich kšnnte fŸr Christoph einen befristeten Job bei einer Bank oder einem Investmenthaus in New York finden.... WŸrden Sie gerne fŸr ein oder zwei Jahre in New York leben?"


Sie sah mich an. "Er wird nicht weglaufen. Er wird nicht glauben, dass sein Bruder ihm etwas antun wŸrde, und er wird nicht weglaufen."


Ich trank den Champagner. Vielleicht hŠtte ich es nicht gesagt, wenn ich nicht so viel Sekt getrunken hŠtte. "Hat er Ihnen von Gšring erzŠhlt?"


Ihre Augen verengten sich. "Hat er mir was von Gšring erzŠhlt?"


"Gšring hat ihn gewarnt, dass Kaspar Drohungen ausspricht, dass Kaspar immer noch wegen der Rathenau-Sache wŸtet, dass wir ihn aus der Rathenau-Sache herausgehalten haben. Kaspar sagt, wir hŠtten Kern und Fischer verraten."


"Das hat Herman Gšring dem Christoph erzŠhlt? Wann?"


"Ich wei§ nicht, letzten Sommer."


"Peter, das kann ich einfach nicht glauben!"


"Sie denken, ich habe es erfunden?" Und um zu beweisen, dass ich es nicht erfunden hatte (Warum? Warum musste ich Helena etwas beweisen?), erzŠhlte ich ihr die ganze Geschichte.


Sie hšrte zu, den Kopf zurŸck in die Kissen geworfen, die Augen geschlossen. Das Feuer knisterte.


Als ich die Geschichte beendet hatte, šffnete sie die Augen wieder. "Wei§t du, dieser Hermann Gšring ist wirklich ein Schwein."


"Das mag sein, aber in diesem Fall -"


In diesem Fall wollte er Christoph nur von den Juden wegbringen, das wollte er, also hat er ihm gesagt, dass Kaspar au§er Kontrolle ist -"


Jetzt war ich wohl selbst ein wenig au§er Kontrolle geraten. "Es war nicht nur Gšring, der vor Kaspar gewarnt hat."


"Wie meinst du das?"


"Er hat dasselbe zu Sigrid gesagt."


"Sigrid?" Helenas Stimme erhob sich. "Willst du mir sagen, dass Sigrid sich mit Kaspar getroffen hat?"


"Nur einmal, Helena, und es war ein Unfall, ein Zufall", und ich erzŠhlte ihr mehr oder weniger, was Sigrid mir gesagt hatte, und Helena begann zu weinen. Sie stŸtzte den Kopf in die HŠnde und weinte, und irgendwo begann das Telefon zu klingeln, und das DienstmŠdchen klopfte und šffnete die TŸr und sagte: "FrŠulein Elizabeth fŸr Mister Ellis", und dann senkte sie ihren Blick und ging aus dem Zimmer und lie§ die TŸr einen Spalt offen, und Helena sagte: "Du wirst zum Pariser Platz gerufen", und ich wollte etwas sagen, aber es gab nichts mehr zu sagen, also ging ich ans Telefon.



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PROLOGUE - THURSDAY, JUNE 15, 1922
I. HOW I GOT THERE
1. PARIS 1922
2. VERDUN 1916
3. IT'S STEALING MONEY, ISN'T IT
4. WHERE WERE YOU IN 1919?
5. RELIABLE TROOPS
6. AN ISLAND
7. BISMARCK FOUND THEM USEFUL
8. INTRODUCTIONS
9. THE LITTLE HOUSE
10. INDIAN CROSSES
11. ANOTHER PART OF TOWN
12. A VIEW OF THE GENDARMENMARKT
13. TWO FOR TEA
14. ON THE TOWN
15. A VIEW OF THE HAVEL
16. REIGEN
II. WHAT HAPPENED
17. THURSDAY, JUNE 15, 1922
18. MONDAY, JUNE 19, 1922
19. WEDNESDAY, JUNE 21, 1922
20. FRIDAY, JUNE 23, 1922
21. SATURDAY, JUNE 24, 1922
22. WHAT HAPPENED?
III. THE WITCHES' SABBATH
23. SILENCE WITH VOICES
24. THE JUDGMENT OF PARIS
25. SAME SONGS, DIFFERENT SINGERS
26. THEY'RE ONLY GOING TO HIRE HIS VOICE
27. INFLATION WORKS IN DIFFERENT WAYS
28. SMALL CHANGE
29. WHY NOT PAINT LILI?
30. COLD WIND IN MAY
31. ROLLING THUNDER
32. WALDSTEIN'S VOICE
33. THE MATTER OF A DOWRY
34. A RUSSIAN WORD AND A GERMAN WORD
>35. THE MARCH ON BERLIN
36. A PIG LOSES MONEY ALL THE TIME
37. THE ARTISTS' BALL
IV. STRIKE TWELVE ZEROs
38. AMYTAL DREAMS
39. LETTERS
40. PROFESSOR JAFFA'S PROGNOSIS
41. THE OTHER SUBJECT
42. ROLLING HOME


Version: 9.11.2022

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Jochen Gruber