Das Neue Denken - Politik im Zeitalter der Globalisierung

Michail Gorbatschow . Vadim Sagladin . Anatoli Tschernjajew 

Originalausgabe Juli 1997

Wilhelm Goldmann Verlag MŸnchen


Zusammenfassung in
Michail Gorbatschow, Das neue Russland: Der Umbruch und das System Putin, 2015,
Teil III - Beunruhigende Neue Welt, Seiten 353 - 356

Hšrbuch, Zeitintervall 4:55:30 - 5:00:55


Inhaltsverzeichnis

Die Konzeption (1985 - 1991)

In diesem Kapital soll es um die Grundprinzipien des Neuen Denkens gehen, wie sie sich von 1985 bis 1991 herausgebildet haben. In dieser Zeit war die Ausarbeitung dieser GrundsŠtze mit ihrer praktischen Anwendung eng verbunden; die Sowjetunion startete zahlreiche Initiativen, die diese GrundsŠtze in praktische Politik umsetzten. Es ist bereits beton worden, da§ die Ideen des Neuen Denkens nichts Einmaliges, Abgeschlossenes darstellten, sondern stŠndig weiterentwickelt wurden. Drei Stufen ihrer Ausarbeitung lassen sich erkennen:

Die erste Stufe, die vor allem die auf dem XXVII. Parteitag der KPdSU dargelegte Position und deren Vertiefung in der Folgezeit umfa§t, bestand in der theoretisch-politischen Analyse der gro§en VerŠnderungen in der Welt wŠhrend der Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg und der Anforderungen, die diese wiederum an die Politik stellten. Die praktische Aufgabe lag zu jenem Zeitpunkt darin, einen realen Weg zur Beendigung des Kalten Krieges, einen Ausweg aus dem Teufelskreis von Mi§trauen, Feindseligkeit und Konfrontation zu finden.

Die zweite Stufe, die vor allem in der Rede des GeneralsekretŠrs des ZK der KPdSU auf der UNO-Vollversammlung am 7. Dezember 1888 zum Ausdruck kam, als die ersten Anzeichen fŸr eine Wende zum Besseren in der internationalen Lage sichtbar wurden, bestand in der Erarbeitung einiger grundsŠtzlicher Ideen zur Entwicklung unseres Planeten. Dabei ging es nicht um die Auseinandersetzung der beiden Lager, sondern um die globalen Interessen der Menschheit, um die GrundsŠtze einer neuen, dringend notwendigen kŸnftigen Weltordnung, die auf der gemeinsamen Entwicklung aller Mitglieder der Weltgemeinschaft beruhte.

Die dritte Stufe, die in den Jahren 1990/91 erreicht wurde, fand ihre Verkšrperung in der Idee, da§ allein VerŠnderungen im Bereich der internationalen Beziehungen nicht ausreichen, da§ die Zukunft der Menschheit nur zuverlŠssig gesichert werden kann, wenn es zu einem Paradigmenwechsel in der Weltentwicklung kommt. Das Ergebnis war ein in sich logisches System von Positionen. Das Neue Denken war weder als ein neuer Katechismus noch als ein neuer Glaube gedacht, mit dessen Hilfe die Menschen das Paradies auf Erden errichteten. Es stellte eine Summe von Ideen dar, die im Zusammenwirken der KrŠfte der Vernunft in aller Welt kreativ weiterzuentwickeln war, eine Summe von Ideen, die, wenn die Politik sie aufnahm, reale Ergebnisse, eine wirkliche Gesundung des politischen und moralischen Klimas auf der Erde ermšglichte. Welches sind die Hauptthesen des Neuen Denkens? Seine Ausgangsthese besteht in der Anerkennung der sich immer stŠrker ausprŠgenden Ganzheit der Welt, des wechselseitigen Zusammenhangs und der wechselseitigen AbhŠngigkeit aller Staaten bei all ihren Unterschieden und ihrer individuellen AusprŠgung. Wir verwenden hier das Wort "Anerkennung", denn praktisch ist die Ganzheit der Welt, die Interdependenz ihrer Subjekte, in Jahrzehnten entstanden. Diese Dynamik wurde von der internationalen Wissenschaft untersucht und in der Au§enpolitik des Westens berŸcksichtigt. Henry Kissinger sagte dazu bereits im Jahr 1975: "Die Interdependenz auf unserem Planeten wird zu einem zentralen Faktor unserer Diplomatie." In unserem Lande wurde die These von der Interdependenz jedoch als These des Klassengegners, als Versuch angesehen, die ungleichen Beziehungen zwischen stŠrkeren und schwŠcheren Staaten, vor allem zwischen frŸheren MutterlŠndern und Kolonien, theoretisch zu begrŸnden. Diese Ansicht ist offenbar vor allem darauf zurŸckzufŸhren, da§ die These von der Interdependenz unseren damaligen ideologischen Konstruktionen zutiefst widersprach. In solchen FŠllen war man rasch dabei, von "Pseudowissenschaft" zu sprechen.

Wie fest wir aber auch unsere Augen schlossen, die Interdependenz wurde zu einer Tatsache, die nicht lŠnger ignoriert werden konnte. Mitte der achtziger Jahre war sie das Hauptmerkmal der internationalen Beziehungen. Einerseits nahm die Welt aufgrund der Internationalisierung des Wirtschaftslebens, des wachsenden gegenseitigen Einflusses der politischen Entscheidungen der Staaten, der Entstehung eines immer dichteren weltweiten Informations- und Kulturraumes eine všllig neue Gestalt an. Entwicklung im national beschrŠnkten Rahmen war praktisch nicht mehr mšglich.

Die Sowjetunion bekam das am eigenen Leib zu spŸren. Durch ihre kŸnstlich aufrechterhaltene technisch- wirtschaftliche und wissenschaftliche Isolierung sowie die nicht weniger kŸnstliche geistige Autarkie isolierte sie sich vom weltweiten Fortschritt und schrŠnkte damit ihre Mšglichkeiten wesentlich ein. Hier liegt eine Quelle unseres RŸckstandes gegenŸber dem Westen in vielen Bereichen.

Andererseits hatten sich in der Welt viele komplizierte und zugespitzte globale Probleme angehŠuft - Probleme der …kologie, der Demographie, der Rohstoffe, der Energie und viele andere. Ihre Existenz und Tragweite wurden in unserem Land lange Zeit unterschŠtzt (zuweilen sogar negiert). Es hie§, wir hŠtten diese Probleme nicht. Aber wir hatten sie natŸrlich, und sie spitzten sich immer mehr zu. Ihre Lšsung im Rahmen eines Landes, ja selbst einer Region, war nicht mehr mšglich. Gefragt war nun weltweite Zusammenarbeit, die Mobilisierung des geistigen und materiellen Potentials aller Všlker der Welt.

Das alles bedeutete nicht, da§ keine nationalen und regionalen Probleme, keine sozialen und Klassenfragen mehr existierten. Aber letzten Endes war ihre Lšsung unvollstŠndig, begrenzt oder ganz und gar unmšglich, wenn die neuen globalen RealitŠten der immer stŠrker eins werdenden Welt dabei nicht in Betracht gezogen wurden. Es bildete sich eine neue Konfiguration des Systems von Interessen heraus, die TriebkrŠfte der Politik sind. Im Vordergrund standen nicht mehr nationale, lokale oder Klasseninteressen, sondern die allgemein menschlichen Interessen. Ihre Befriedigung war zur Voraussetzung fŸr die Befriedigung aller Ÿbrigen Interessen geworden. Die Erkenntnis, da§ die allgemein menschlichen Interessen und Werte in unserer Zeit PrioritŠt haben mŸssen, wurde zum HerzstŸck des Neuen Denkens. Damit konnte die lebenswichtige Bedeutung der moralischen GrundsŠtze, die die Všlker in Jahrhunderten geschaffen und allgemein akzeptiert hatten und die die grš§ten Geister der Menschheit geprŠgt hatten, fŸr die internationalen Beziehungen der Gegenwart umfassender gewŸrdigt werden. Diese theoretisch neue Schlu§folgerung war lange Zeit au§erhalb des Gesichtsfeldes bedeutender auslŠndischer Wissenschaftler geblieben, die das Problem der Interdependenz untersuchten. Was die Politiker betrifft, so taten sie so, als kšnne von allgemein menschlichen Interessen Ÿberhaupt keine Rede sein. In der Praxis interessierten sie vor allem ihre eigenen, oft genug rein egoistischen Interessen.

Die These von der PrioritŠt der allgemein menschlichen Werte widersprach in der Tat den vorherrschenden Auffassungen und Gewohnheiten. Sie fand nur unter gro§en Schwierigkeiten Akzeptanz - sowohl in unserem Land als auch anderswo. In der ganzen hier zur Debatte stehenden Zeit (und selbst bis heute) mu§te man sie geduldig erklŠren, erlŠutern und den Nachweis fŸhren, da§ diese Fragestellung niemandes Interessen schmŠlert, da§ sie allerdings den Wunsch und die FŠhigkeit voraussetzt, ein Gleichgewicht aller Interessen zu finden, das zum Konsens fŸhrt und fŸr alle Beteiligten fruchtbare Ergebnisse bringt. Wenn solche Lšsungen allerdings nicht gefunden werden, droht der Welt und damit allen Staaten und Všlkern eine Katastrophe.

Uns in der Sowjetunion fiel es offenbar besonders schwer, die neuen RealitŠten zu begreifen. Denn die Konzeption der Weltentwicklung, die sich in unserem Lande nach der Revolution von 1917 durchgesetzt hatte, beruhte auf der Vorstellung von einer unvermeidlich grundsŠtzlichen Teilung der Welt. Die damalige Welt lieferte allerdings auch allen Grund fŸr einen derartigen Schlu§. Nach dieser Konzeption gab es fŸr die Entwicklung der Menschheit keine Alternative. Sie ging von der schicksalhaften Spaltung der Welt in zwei einander gegenŸberstehende Systeme aus, die bestŠndig miteinander ringen, bis letzten Endes der Sieg des Sozialismus in der ganzen Welt erreicht wŠre. Unter Sozialismus verstand man damals das System, das in der UdSSR aufgebaut und dann durch Eingreifen in die innere Entwicklung anderer Staaten in erster Linie nach Osteuropa exportiert wurde.

Ungeachtet der tiefgreifenden VerŠnderungen, die nicht mehr zu Ÿbersehen waren, bleiben die KPdSU und der Sowjetstaat bei ihren alten Auffassungen und einem entsprechenden Verhalten. Selbst in der neuen Fassung des Parteiprogramms, die auf dem XXIII. Parteitag beschlossen wurden, waren die alten Konzeptionen noch deutlich spŸrbar. Allerdings war auf demselben Parteitag auch von den anderen, neuen GrundsŠtzen die Rede, Ÿber die wir hier sprechen. Das betraf vor allem die Einheitlichkeit und Interdependenz der Welt.

Wenn aber dies der reale Zustand der Welt war, dann konnte die Hauptentwicklungstendenz nicht eine noch tiefere Spaltung, sondern mu§te eine fortschreitende Einheit der Welt sein. Die Sowjetunion als Teil dieser Welt mu§te ihren Platz in diesem System suchen und finden.

Auf dem Treffen von Parteien und Bewegungen, das aus Anla§ des 70. Jahrestages der Oktoberrevolution im November 1987 in Moskau stattfand, wurde die Schlu§folgerung formuliert, da§ man die Entwicklung der Welt nicht mehr allein aus dem Blickwinkel des Kampfes der beiden entgegengesetzten Gesellschaftssysteme betrachten kšnne. Die Dialektik dieser Entwicklung liege in der Einheit, nicht in der Auseinandersetzung, im Wettbewerb und im Zusammenwirken einer Vielzahl von Faktoren.

In diesem Zusammenhang wurde der Schlu§ gezogen, da§ es notwendig sei, die internationalen Beziehungen vom ideologischen Ballast zu befreien. Das entscheidende Argument fŸr politische EntschlŸsse sollten die realen Interessen der Všlker und Staaten im Zusammenhang mit den allgemeinen Menschheitsinteressen sein. Dieser neue Blick auf die Weltkarte fŸhrte unausweichlich zu einer neuen politischen Grundsatzentscheidung. Diese fiel zum ersten Mal auf dem XXVII. Parteitag: "Der Gang der Geschichte und der gesellschaftliche Fortschritt fordern immer nachdrŸcklicher, weltweit ein konstruktives, kreatives Zusammenwirken der Staaten und Všlker durchzusetzen. Sie fordern dies nicht nur, sondern schaffen dafŸr die notwendigen politischen, sozialen und moralischen Voraussetzungen."

Im Dezember 1988 wurde diese Schlu§folgerung vor der UNO-Vollversammlung mit Blick auf die Zukunft ergŠnzt und vertieft. Aus Zusammenarbeit sollte "gemeinsames kreatives Handeln" und "gemeinsame Entwicklung" werden. Was die Sowjetunion betraf, so stand ihr noch bevor, sich in diese Zusammenarbeit aktiv einzuschalten, sich intensiver an Weltwirtschaft und Weltpolitik zu beteiligen. Man erwartete, da§ die Sowjetunion praktische Initiativen fŸr gemeinsames kreatives Handeln und eine gemeinsame Entwicklung ergreifen werde.

Die zweite Grundthese des Neuen Denkens ist mit der ersten eng verbunden und lŠuft auf folgendes hinaus: Bei aller Beachtung der zunehmenden Einheitlichkeit und Interdependenz der Welt mu§ auch konsequent beachtet werden, da§ sie zugleich weiterhin eine gro§e Vielfalt aufweist. Die Dialektik von Einheitlichkeit und Vielfalt, †bereinstimmung einerseits sowie individueller, spezifischer AusprŠgung der Staaten, Všlker und Regionen unseres Planeten andererseits ist eine der wichtigsten TriebkrŠfte des Fortschritts in der Gegenwart. Die Welt ist nichts Gleichfšrmiges mehr, sondern eine Einheit der Vielfalt, des Vergleichs und der Harmonisierung von Unterschieden.

Die These von der Vielfalt der Welt ist nicht neu. Was hat das Neue Denken zu ihrem tieferen VerstŠndnis beigetragen? Es hat zur Anerkennung der Vielfalt mit den notwendigen Schlu§folgerungen gefŸhrt - vor allem zur Anerkennung dessen, da§ jedes Volk das uneingeschrŠnkte Recht besitzt, seinen Entwicklungsweg und seine Lebensweise frei zu wŠhlen.

Jedes Land und jedes Volk hat seine Rechte, seine nationalen Interessen und Bestrebungen. Das ist eine hšchst bedeutsame RealitŠt unserer Zeit. Aber die FŠhigkeit einiger Politiker gro§er westlicher Staaten, die geschehenen unumkehrbaren VerŠnderungen in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen, hŠlt mit dieser Entwicklung offenbar nicht Schritt. Daher komme es immer wieder zu RŸckfŠllen in Hegemoniestreben, zu Versuchen, andere Staaten den eigenen Interessen unterzuordnen, sie mit politischen, wirtschaftlichen oder militŠrischen Mitteln zu beherrschen. All das steht aber im Widerspruch zu dem tiefgreifenden Wandel im Gang der Weltgeschichte, wie er in der †berwindung des Kolonialismus und dem Auftreten Dutzender Staaten als selbstŠndig handelnde Subjekte der Weltpolitik zum Ausdruck kommt.

Daraus folgt vor allem: Es mu§ jeder Versuch ausgeschlossen werden, auf die Entwicklung anderer Staaten direkten oder indirekten Einflu§ zu nehmen, sich in ihre inneren Angelegenheiten einzumischen. Ebenso unzulŠssig sind auch jegliche Aktionen zur Destabilisierung legitimer Regierungen von au§en.

Im Grunde genommen ist ein solches Verhalten die Voraussetzung fŸr eine wirkliche Demokratisierung der Weltpolitik. Eine Demokratisierung, von der man viel redet, dabei jedoch hŠufig vergi§t, da§ nicht rhetorische †bungen, sondern die politische Praxis gemeint ist, vor allem die Praxis der grš§ten und mŠchtigsten Staaten. Von ihrem Verhalten hŠngen Wesen und Formen der weiteren Entwicklung der internationalen Beziehungen in entscheidendem Ma§e ab. Beherzigen dies die Politiker? Es sind zu viele Tatsachen bekannt, als da§ man auf diese Frage eine bejahende Antwort geben kšnnte. Von der ferneren Vergangenheit soll hier nicht die Rede sein. Es genŸgt, an die Intervention der USA in Grenada, die Aggression Iraks gegen Kuwait oder den všllig unzulŠssigen amerikanischen Druck auf Kuba zur VerŠnderung der inneren Ordnung dieses Landes zu erinnern.

Auf der XIX. Parteikonferenz der KPdSU wurde dazu erklŠrt: "Die Konzeption der freien Wahl des Entwicklungsweges nimmt im Neuen Denken eine SchlŸsselstellung ein. Wir sind davon Ÿberzeugt, da§ es sich hier um ein universelles Prinzip der internationalen Beziehungen handelt ... SouverŠnitŠt und UnabhŠngigkeit, Gleichberechtigung und Nichteinmischung werden zu bindenden Normen der internationalen Beziehungen, was eine gro§e Errungenschaft des 20. Jahrhunderts ist. Sich der freien Wahl des Entwicklungsweges zu widersetzen, hie§e, sich gegen den objektiven Gang der Geschichte zu stemmen."

Zuweilen wird die Frage gestellt: Besteht nicht ein Widerspruch zwischen der fortschreitenden Einheitlichkeit der Welt und der Garantie dafŸr, da§ jedes Volk seinen Entwicklungsweg wirklich frei wŠhlen kann? Ja, hier besteht in der Tat ein Widerspruch. In der Welt laufen Integrationsprozesse ab, die Staaten rŸcken zusammen, die Welt wird gleichsam enger; zugleich wŠchst ihre Vielfalt, sie wird gleichsam weiter. Weder das eine noch das andere darf man ignorieren, denn es handelt sich hier um zwei Seiten eines dialektischen Prozesses.

Auf keinen Fall darf dieser reale Widerspruch - wie Ÿbrigens auch andere in der modernen Welt - mit Mitteln der Gewalt gelšst werden. Die gordischen Knoten unserer Zeit zu zerhauen, kŠme uns teuer zu stehen, hŠtte vielleicht nicht wiedergutzumachende Folgen.

Die wichtigste Schlu§folgerung, die die Politik aus dem neuen Zustand der Welt zu ziehen hat, lautet also: Die Interessen anderer Staaten, gro§er und kleiner, mŸssen uneingeschrŠnkt respektiert, in den internationalen Beziehungen mu§ ein realer Ausgleich der Interessen gefunden. werden.

Dabei ist es fŸr jeden Staat wichtig, die eigenen Interessen richtig zu definieren. Es darf einzelnen egoistischen Gruppen mit hegemonistischen Ambitionen nicht gestattet werden, ihr eigensŸchtiges Interesse als das des Staates, der ganzen Nation auszugeben. Hier sind Verantwortungsbewu§tsein und ehrliche Absichten der Politiker jedes einzelnen Landes gefragt. Schlie§lich sei noch eine dritte Gruppe von Problemen genannt, die den Kern des Neuen Denkens ausmachen. Sie betreffen das Wesen der modernen RŸstung im Zeitalter von Atomwaffen und Raketen. Von der Notwendigkeit eines Neuen Denkens im Atomzeitalter sprach als einer der ersten Albert Einstein. Aber seine Warnung fand kein Gehšr. (Die Schlu§folgerungen der Wissenschaftler werden bis heute nicht genŸgend beachtet, in der Regel sogar ignoriert.) Dabei haben bereits die ersten Atombombenexplosionen in Hiroshima und Nagasaki gezeigt, da§ eine neue Ära in der Geschichte der Menschheit begonnen hat. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte ist sie sterblich geworden. Das JŸngste Gericht ist keine biblische Allegorie mehr, sondern kann zur selbstverschuldeten Tragšdie werden.

Das Begreifen dieser Wahrheit war fŸr uns der entscheidende Impuls dafŸr, alte Dogmen und Klischees zu ŸberprŸfen, nach neuen Ideen und einer neuen Politik zu suchen. Davon war die ErklŠrung des GeneralsekretŠrs des ZK der KPdSU vom 15. Januar 1986 diktiert, deren Hauptanliegen in dem Vorschlag bestand, erste praktische Schritte zu einer atomwaffenfreien Welt im 21. Jahrhundert zu gehen.

Das tiefere Nachdenken Ÿber die Situation und die mšglichen Folgen der Anwendung von Massenvernichtungswaffen fŸhrte zu theoretischen und politischen Schlu§folgerungen von grundsŠtzlicher Bedeutung. Die erste Schlu§folgerung lief darauf hinaus, da§ der Charakter der modernen Waffen keinem Staat mehr die Hoffnung lŠ§t, sich allein mit militŠrtechnischen Mitteln, durch den Aufbau seiner Verteidigung, und es es der allerstŠrksten, zu verteidigen. Die GewŠhrleistung der Sicherheit wird immer mehr zu einer politischen Aufgaben, die vor allem mit politischen Mitteln gelšst werden mu§. Politische Mittel sind Verhandlungen, Verhandlungen und nochmals Verhandlungen; Verhandlungen - wie bereits gesagt - auf der Grundlage des Interessenausgleichs aller beteiligten Seiten, ihrer wahrhaften Gleichberechtigung, das Verzichts auf die Methode des Nullsummenspiels. Verhandlungen, die Toleranz und die beharrliche Suche nach gegenseitig annehmbaren Kompromi§lšsungen voraussetzen. Sicherheit kann nicht lŠnger auf der Furcht vor unausbleiblicher Vergeltung beruhen, das hei§t, mit Hilfe von ZŸgelungs- oder Abschreckungsdoktrinen erreicht werden. Der einzig richtige Weg ist die Beseitigung der Atomwaffen, die Reduzierung und Begrenzung der RŸstung Ÿberhaupt.

In der Geschichte galt als Rechtfertigung des Krieges, als sein "rationaler Sinn", die Mšglichkeit, bestimmte politische Ziele mit militŠrischen Mitteln zu erreichen. Aber ein Atomkrieg ist sinnlos und irrational. Heute, da Atomkraftwerke, Produktions- und LagerstŠtten fŸr atomaren Brennstoff, Betriebe der chemischen und petrochemischen Industrie Ÿberall verstreut sind, deren Zerstšrung fŸr sich genommen gigantische Katastrophen auslšsen wŸrde, ist auch ein Krieg mit konventionellen Waffen, was die Folgen betrifft, einem Atomkrieg gleichzusetzen. Wir stehen also vor einer všllig neuen Situation.

Da eine Lšsung internationaler WidersprŸche mit militŠrischen Mitteln oder gar durch den Einsatz von Atomwaffen unmšglich geworden ist, entsteht eine neue Dialektik von StŠrke und Sicherheit. Krieg ist ein untaugliches Mittel, um politische Ziele zu erreichen. Er kann aber durchaus die ganze Menschheit ins Verderben stŸrzen. Daraus ergibt sich unsere zweite Schlu§folgerung: Die Politik der StŠrke hat sich in unserer Zeit grundsŠtzlich Ÿberlebt,. Mancher versucht allerdings zu beweisen, da§ dies nicht so sei, da§ Kriege die Fortsetzung der Politik sein und bestimmte Ergebnisse bringen kšnnten. Jedoch alle Erfahrungen der Zeit sei dem Zweiten Weltkrieg haben gezeigt: Kein einziger bewaffneter Konflikt hat den Beteiligten, vor allem den Initiatoren, substantielle politische Dividende gebracht. Eine Welt der Gewalt ist innerlich labil, was man darŸber auch immer sagen mag. Sie beruht auf Konfrontation, verdeckter oder offener; sie trŠgt die stŠndige Gefahr neuer Eruptionen in sich; sie verfŸhrt zu immer neuen Versuchen, Ambitionen mit Waffengewalt durchzusetzen.

In der modernen Welt werden das Ansehen eines Staates, sein Platz in der internationalen Gemeinschaft immer weniger von Zahl und StŠrke seiner Armee bestimmt werden, sondern vom Niveau seiner Zivilisation, von seinem Einsatz fŸr die allgemeinen Menschheitsinteressen, von Freiheit und Wohlstand seines Volkes, von der FŠhigkeit, seine EigenstŠndigkeit nicht auf Kosten anderer, sondern in ehrlicher Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil zu bewahren und zu bereichern.

Eine wechselseitig abhŠngige, zusammenarbeitende und sich gemeinsam entwickelnde Welt schlie§t eine Politik der StŠrke grundsŠtzlich aus, da diese ihrem Wesen, den Normen ihrer Moral und Sittlichkeit absolut widerspricht. Die Denk- und Verhaltensweisen, von denen sich die Menschheit jahrhundertelang leiten lie§, mŸssen kŸnftig der Vergangenheit angehšren. NatŸrlich fŠllt es schwer, sich von der Politik der StŠrke als einer Dimension der Sicherheit loszusagen. Ein solcher Verzicht wird in der Ÿberschaubaren Zukunft wohl kaum RealitŠt werden. Schlie§lich tummeln sich auf der weltpolitischen BŸhne noch genŸgend verantwortungslose Politiker, die dazu fŠhig sind, "einen Weltbrand zu entzŸnden, um sich ein Ei zu braten".

Bei minimaler VerstŠndigung unter der Mehrheit der Mitglieder der Weltgemeinschaft kann es jedoch gelingen, da§ der Spielraum fŸr eine Politik der StŠrke mehr und mehr eingeengt wird, da§ jede Anwendung von Gewalt unverzŸglich auf breiteste Verurteilung trifft.

Die dritte Schlu§folgerung ist eine logische Fortsetzung der ersten beiden. Unter den heutigen Bedingungen kann die Sicherheit (vor allem der atomaren Gro§mŠchte) nur gegenseitig und - im globalen Rahmen - nur allumfassend sein. Dieser Gedanke inspirierte die sowjetische Politik, die bereits 1986 ein Programm zum Aufbau eines allumfassenden Systems der internationalen Sicherheit vorlegte, das nicht nur den militŠrischen, sondern auch den politischen , den wirtschaftlichen und den humanitŠren Bereich umfa§t. Denn im Zeitalter der Globalisierung der internationalen Prozesse bedeutet Interdependenz nicht nur, da§ sich die Schicksale der Staaten und Všlker immer enger miteinander verflechten, sondern auch, da§ die verschiedenen Bereiche menschlicher TŠtigkeit, die verschiedenen Aspekte der Sicherheit der Menschen immer enger miteinander zusammenhŠngen.

Theorie und Methodologie des Neuen Denkens lag das Streben zugrunde, Politik und Moral in den internationalen Angelegenheiten eng miteinander zu verknŸpfen. Das ist eine hšchst komplizierte Aufgabe, von der in Vergangenheit und Gegenwart stets viel gesprochen wurde, die aber niemals gelšst werden konnte. Auch in den Jahren der Perestroika gelang dies nicht in vollem Ma§e. Trotzdem ist unbestreitbar, da§ die in dieser Zeit getroffenen grundsŠtzlichen internationalen Entscheidungen im Prinzip moralischen Grundsetzen gerecht wurden. Zugleich wichen auch in dieser Zeit nicht wenige Staaten in ihrer konkreten Politik von diesen GrundsŠtzen ab.

Das Nachdenken Ÿber das Wesen der Probleme der modernen Welt, Ÿber Lšsungswege, Ÿber die Prinzipien der Beziehungen zwischen den Staaten und Všlkern fŸhrte allmŠhlich zu dem Schlu§: Wenn man die kŸnftige Entwicklung der Menschheit sichern und ihr neue Horizonte erschlie§en will, dann reicht es nicht aus, sich allein auf den Bereich der internationalen Beziehungen, des VerhŠltnisses zwischen den Staaten zu beschrŠnken. Letzten Endes lŠuft alles auf die Grundlagen der Existenz der menschlichen Gesellschaft, auf die tiefer liegenden Prozesse hinaus, die das Dasein der Gemeinschaft der Menschen bestimmen.

AllmŠhlich, Schritt fŸr Schritt gewann der Gedanke Gestalt, da§ es nicht nur um einen Wandel in der internationalen Politik gehen konnte, sind, wenn wir es in unserer traditionellen Sprache ausdrŸcken, nicht anderes ist als ein †berbau. Es mu§ darum gehen, das Wesen unserer Zivilisation, ihre grundlegenden Parameter zu verŠndern. "Gebraucht wird eine neue Revolution des Bewu§tseins", hie§ es bei der Begegnung auf dem Kapitol in Rom am 30. November 1989. "Nur auf dieser Grundlage kšnnen eine neue Kultur und Politik entstehen, die den Herausforderungen unserer Zeit gerecht werden. Ausgangspunkte fŸr diese PrŸfung, fŸr die Lšsung dieser weltgeschichtlichen Aufgabe sind die ewigen moralischen Gebote, die einfachen Gesetze von Sittlichkeit und Menschlichkeit, von denen schon Mark sprach."

Noch prŠgnanter wurde diese neue Problemstellung beim Treffen mit Vertretern der geistigen und kulturelle Elite der USA am 31. Mai 1990 formuliert. "Mir scheint", fŸhrte der PrŠsident der UdSSR dort aus, "da§ in der letzten Zeit eine Idee immer deutlicher in den Vordergrund tritt und das Denken der Menschen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert beherrscht. Das ist die Idee von der weltweiten Einheit. Ihre praktische Verwirklichung ist eine epochale Aufgabe ... Der Aufstieg der Menschheit zur Realisierung ihrer geschichtlichen Bestimmung mu§ sich ohne bleibende SchŠden fŸr die Umwelt, ohne Ausbeutung des Menschen und ganzer Všlker, ohne unwiederbringliche moralische und geistige Verluste vollziehen. Es ist schwer und ungewohnt, eine neue Zivilisation zu bauen."

Diese Ideen konnten bis Ende 1991 nicht mehr umfassend angewandt werden. So wurden sie gleichsam zum geistigen Schlu§akkord der Arbeit an der AusprŠgung des Neuen Denkens.

Bisher war lediglich von den Hauptthesen des Neuen Denkens die Rede, wie sie in der Zeit von 1985 - 1991 formuliert und angewandt wurden. Sie haben eine theoretische Weiterentwicklung erfahren, von der noch die Rede sein wird. Hier soll zunŠchst auf die Frage eingegangen werden, wie sich die Umsetzung der Prinzipien des Neuen Denkens auf die reale Lage jener Zeit ausgewirkt hat.



Version: 14.1.2017
Adresse dieser Seite
Home
Joachim Gruber